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Amtsschimmel - Folge 4: Sozialgericht Schwerin

Schlechterdings unvertretbar und den Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllend, so lautet mein Urteil zu einem abweisenden Urteil des SG Schwerin, in dem es um den Ausgleich von Mehraufwendungen in der Corona-Pandemie ging (SG Schwerin, Urt. v. 19.7.23 - S 11 AS 101/21).

Wir erinnern uns, das Pandemiegeschehen brachte allerlei gesetzliche Bestimmungen hervor, die so einige finanzielle Belastungen nach sich zogen. Für Arbeitslose waren jene besonders belastend, da diese nicht in dem damaligen nach den in 2018 maßgebenden Kosten berechneten Hartz-IV-Regelsatz eingeflossen waren. Der vor Gericht gelandete Fall dreht sich im Kern um die Verfassungsmäßigkeit der durch die Bundesregierung erfolgten Einmalzahlung von 150 EUR (§ 70 SGB2), mit der der Gesetzgeber pauschal sämtliche Mehrbelastungen im ersten Halbjahr 2021 auffangen wollte.

Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits im Hartz-IV-Urteil in 2010 die für den Gesetzgeber geltenden rechtlichen Maßstäbe aufgestellt:

1. Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt. Wenn der Gesetzgeber seiner verfassungsmäßigen Pflicht zur Bestimmung des Existenzminimums nicht hinreichend nachkommt, ist das einfache Recht im Umfang seiner defizitären Gestaltung verfassungswidrig (BVerfG, Urt. v. 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, Rn. 137).

2. Der Gesetzgeber hat alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen (BVerfG, Urt. v. 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, Rn. 139). Er darf also nicht irgendwelche plausbilen Summen aus dem Bauch heraus hierfür vorsehen, sondern es bedarf einer Grundlage von wissenschaftlicher Expertise, um zur Ermittlung dieser Summe zu gelangen.

3. Das dergestalt gefundene Ergebnis ist zudem fortwährend zu überprüfen und weiter zu entwickeln, weil der elementare Lebensbedarf eines Menschen grundsätzlich nur in dem Augenblick befriedigt werden kann, in dem er besteht. Der Gesetzgeber hat daher Vorkehrungen zu treffen, auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Preissteigerungen oder Erhöhungen von Verbrauchsteuern, zeitnah zu reagieren, um zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen, insbesondere wenn er wie in § 20 Abs. 2 SGB II einen Festbetrag vorsieht (BVerfG, Urt. v. 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, Rn. 140). Dies bedeutet, dass dem Gesetzgeber eine Beobachtungspflicht trifft und er bei plötzlichen Veränderungen der Umstände nicht erst irgendwann in ferner Zukunft, sondern so schnell wie möglich zu reagieren hat.

4. Zur Ermöglichung [der] verfassungsgerichtlichen Kontrolle besteht für den Gesetzgeber die Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offenzulegen. Kommt er ihr nicht hinreichend nach, steht die Ermittlung des Existenzminimums bereits wegen dieser Mängel nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang (BVerfG, Urt. v. 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, Rn. 144). Der Gesetzgeber muss also im Gesetzgebungsverfahren offenlegen, wie er zu der Bestimmung des Existenzminimums gelangt ist, so dass diese Ermittlungsmethode erst nachprüfbar wird.

Man möchte meinen das ist eindeutig genug, dass sogar ein juristischer Laie zu der Schlussfolgerung fähig wäre, dass eine in einer politischen Klüngelrunde ohne jedwede wissenschaftliche Expertise ermittelte Einmalzahlung von 150 EUR, welche auch erst im Mai 2021 reichlich spät ausgezahlt wurde, nicht jenen verfassungsrechtlich bindenden Vorgaben entsprochen hat. Doch fast die gesamte deutsche Sozialgerichtsbarkeit, so auch das SG Schwerin, ließ diese unmissverständlichen Worte des höchsten deutschen Gerichts ungehört verhallen - ein Skandal riesigen Ausmaßes, da Millionen von Leistungsbeziehern ihnen verfassungsrechtlich zustehenden und rechtzeitig zu erfolgenden Zahlungen vorenthalten wurden und bislang noch nicht einmal vor Gericht zu ihrem Recht kamen! Und dass obwohl dreistellige Milliardenhilfen "zeitnah und unbürokratisch" an die Wirtschaft gezahlt wurden. Das ist leicht entzündlicher sozialpolitischer Sprengstoff! Es wurden Millionen am Existenzmimimum lebender durch unzureichende Anpassungen für die entstandenen Mehrbelastungen benachteiligt!

Die einzige rühmliche Ausnahme in der hierzu ergangenen Rechtsprechung war das Sozialgericht Karlsruhe. Dort stellte man sich seiner Verantwortung und wurde nicht müde den Gesetzgeber an seine Hausaufgaben zu erinnern (zuletzt ausführlichst: SG Karlsruhe, Urt. v. 6.6.23, S 12 AS 2208/22) und ließ auch kein gutes Haar an seinen nur allzu oberflächlich arbeitenden Kollegen. Das SG Karlsruhe arbeitete ausführlich und kenntnisreich heraus, warum es die Einmalzahlung für evident verfassungswidrig hält und nunmehr dem Bundesverfassungsgericht die Norm zur Kontrolle vorlegte. Der hier tapfer für das Recht kämpfende (und nicht allein dem fiskalischen Interesse des Fiskus sich verpflichtend fühlende) Sozialrichter ist nunmehr Anfeindungen seiner Berufsgenossen und Repressionen ausgesetzt, welche Bände über die verkommenen Zustände in diesem sogenannten Rechtsstaat sprechen (weitere Amtsschimmel-Folgen werden diese unermüdlich thematisieren).

Die Courage des Karlsruher Richters verdient meine Hochachtung, mit seinen geltendes Recht brechenden Kollegen geht er hart ins Gericht (a.a.O., Rn. 522):

"Eben jenen Fragestellungen gingen die Sozialgerichte und Landessozialgericht trotz des diesbezüglichen Vortrags der Beteiligten bzw. der in Bezug genommenen Entscheidungen des Sozialgerichts Karlsruhe in ihren Gerichtsentscheidungen nicht einmal ansatzweise nach, obwohl sie sich aufdrängten und im Wege der Bezugnahme auf sie hingewiesen worden war von Seiten der nach Grundrechtsschutz suchenden Menschen in existentieller Not (vgl. Gilsbach, FFP2-Masken für Leistungsbeziehende nach dem SGB II gibt es nur beim SG Karlsruhe, KJ – Kritische Justiz, 2021, 386; m.w.N). [...] Auch sind die Gründe der Verfassungswidrigkeit bereits 28 Monate lang bekannt bzw. nur infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt. Sie waren seither in den veröffentlichten Entscheidungen des Sozialgerichts Karlsruhe jedermann zugänglich (vgl. Sozialgericht Karlsruhe, 11.02.2021, S 12 AS 213/21 ER; Sozialgericht Karlsruhe, 11.03.2021, S 12 AS 565/21 ER; Sozialgericht Karlsruhe, 24.03.2021, S 12 AS 711/21 ER). So hätte sich innerhalb der für das Existenzsicherungsrecht zuständigen Berufsrichterschaft der bundesdeutschen Sozialgerichtsbarkeit die Unvereinbarkeit der Einmalzahlung aus § 70 Satz 1 SGB II mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum und den Allgemeinen Gleichheitsgrundsatz aufdrängen müssen. Angesichts dessen ist justizextern nicht nachzuvollziehen, weshalb die Richter das Bestehen der pandemie- bzw. inflationsbedingt unabweisbaren Mehraufwendungen beharrlich kollektiv leugnen, anstatt die grundgesetzwidrigen Bestimmungen dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen und die Jobcenter einstweilen zur Gewährung weiterer Leistungen zu verpflichten (vgl. Ronen Steinke, "Armes Deutschland – Wie viel ist uns Menschenwürde wert? Die Debatte um das Bürgergeld zeigt die herablassende Gönnerhaftigkeit von Politik und Gesellschaft", in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 275, Dienstag, 29. November 2022, Seite 9.). Dieses offenkundige Versagen leistete nicht nur demokratieskeptischen recht(sextrem)en Tendenzen Vorschub, sondern bestärkte auch link(sextrem)e darin, in sozialgerichtlichen Klagebegründungen verschwörungstheoretisch die Misere der Sozialgerichtsbarkeit wäre allein mit ihrer historischen Verstrickung mit dem fremdenfeindlichen und rassistischen Nazi-Regime bzw. den persönlichen Kontinuitäten in der Justiz nach 1945 zu erklären (vgl. SG Karlsruhe, Gerichtsbescheid vom 23. Januar 2023 – S 12 AS 2166/22 –, Rn. 17, juris). Trotz alledem sind die Berufsrichter der 68 Sozialgerichte und 14 Landessozialgerichte und des Bundessozialgerichts kollektiv ihrer Verfassungspflicht aus Art. 100 Abs. 1 GG nicht nachgekommen, die voraussichtlich verfassungswidrige Vorschrift des § 70 Satz 1 SGB II den für ihre Nichtigkeitserklärung kraft Gesetzes zuständigen Richtern des Bundesverfassungsgerichts vorzulegen."

In meinen Augen ist das Verhalten der übrigen Sozialgerichte auch strafrechtlich relevant und der Tatbestand der Rechtsbeugung (§ 339 StGB) erfüllt, da deren Würdigung angesichts der schweren Verfassungsverstöße eine vorsätzliche unvertretbare Verletzung von Recht und Gesetz darstellen und die jeweiligen Richter sich auch bewusst in schwer wiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt haben.

Mit Verweis auf die Ausführungen des SG Karlsruhe habe ich daher in Konsequenz dieser Ausführungen am gestrigen Tag Strafanzeige wegen Rechtsbeugung gegen die zuständigen Richter des SG Schwerin aus dem Verfahren S 11 AS 101/21 gestellt (Az: 185 Js 30793/23). Es bedarf meines Erachtens eines deutlichen Zeichens, dass solcherlei offenkundige Rechstmissbräuche nicht erst durch eine Korrektur im Instanzenzug in Ordnung gebracht werden, sondern es auch einer strafrechtlichen Ahndung jener richterlichen Willkür bedarf. Bei dem derzeitigen desolaten Zustand des Rechtsstaats mache ich mir keine Illusionen, was den Verfolgungseifer durch die Staatsanwaltschaft Schwerin angeht, aber vielleicht überraschen mich die dort tätigen Kollegen ja zur Abwechslung einmal positiv.

Update vom 20.11.23: Die nunmehr eingetroffene (unbefriedigende) Antwort der Staatsanwaltschaft Schwerin wird in einer Fortsetzungsfolge besprochen.

Update vom 15.01.24: Neu sind die Besprechungen von Antworten des Justizministeriums und der Generalstaatsanwaltschaft Rostock im Blog, auf die ich hier ebenfalls hinweisen möchte.

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