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Amtsschimmel - Folge 4 (Fortsetzung 3) - Die Generalstaatsanwaltschaft steckt den Kopf in den Sand

Wenn es um das Sühnen staatlichen Unrechts geht, ist in der Regel auf eines Verlass: Auf eine groteske Verweigerungshaltung anderer staatlicher Stellen dies anzuerkennen und in der Folge auch zu ahnden. Wer den Ausgangsfall verpasst hat, sollte unbedingt sich zuvor den Beitrag hier noch einmal anschauen.

Widmen wir uns heute dem Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft Rostock vom 10. Januar 2024 (Az.: 2 Zs 724/23), der inhaltlich bedauerlicherweise wieder einer Arbeitsverweigerung gleich kommt. Immerhin stellt man sich dabei leicht intelligenter an als noch die Staatsanwaltschaft Schwerin, wenn auch im Ergebnis ohne Substanz:



Lieber Kollege Henkelmann, haben Sie wirklich über die Jahre alles vergessen, was Sie einmal im Staatsrecht gehört haben sollten? So grundlegende Dinge, wie die Bindung aller staatlicher Gewalt an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) oder das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG)?! Fühlen Sie sich auch noch gut dabei, wenn Sie tatkräftig dabei mithelfen, dass über Jahre die verfassungsrechtlich verbürgten Rechte von vielen betroffenen Bürgern mit Füßen getreten werden?!

Fürwahr bedarf es bei der juristischen Arbeit einer gewissen Gewissensanspannung, um das abstrakte Recht auch auf neue Sachverhalte konkret anzuwenden. Rechtsanwendung ist dabei ureigenste Aufgabe aller Juristen! Eine solche Gewissensanspannung lässt aber auch ihr Schreiben vermissen. Dabei wäre es doch so einfach?! Deshalb für Sie und ihre Kollegen noch einmal zum Nachdenken: Die hier seit 2010 im Raum stehende Rechtsprechung des BVerfG hat bindende Wirkung für alle staatlichen Organe, einschließlich Exekutive und Judikative. Das bedeutet, dass Behörden und Gerichte an die Auslegung des Grundgesetzes durch das BVerfG gebunden sind. Diese Bindung stellt sicher, dass die Grundrechte und grundlegenden Prinzipien des Grundgesetzes in der gesamten Rechtsanwendung beachtet werden - dazu sind also sowohl die Staatsanwaltschaft als auch das Sozialgericht Schwerin gehalten.

Es hätte genügt einmal das stets in Bezug genommene Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe anzuschauen und vor allem, es auch nachzuvollziehen. Richter Figura und die Staatsanwälte Wilhelms und Henkelmann sind offensichtlich nicht willens oder in der Lage, die in den Randnummern 419 ff. getätigten Äußerungen selbst angemessen zu würdigen, dort hatte das SG Karlsruhe die Rechtsprechung des BVerfG rezipiert und auf den vorliegenden Fall angewendet:

"Jenseits dieser Evidenzkontrolle überprüft das Bundesverfassungsgericht, ob Leistungen jeweils aktuell auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren im Ergebnis zu rechtfertigen sind. Lassen sich die Leistungen nachvollziehbar und sachlich differenziert tragfähig begründen, stehen sie mit Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang (BVerfGE 137, 34 (73)). Die gesetzgeberischen Festlegungen zur Berechnung der Höhe existenzsichernder Leistungen müssen sachlich vertretbar sein. Auch ein politisch ausgehandelter Kompromiss darf nicht zu sachlich nicht begründbaren Ergebnissen führen. Schlicht gegriffene Zahlen ebenso wie Schätzungen ins Blaue hinein genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht (BVerfGE 137, 34 (75)).

Die Art und die Höhe der Leistungen müssen sich mit einer Methode erklären lassen, nach der die erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt werden und nach der sich die Berechnungsschritte mit einem nachvollziehbaren Zahlenwerk innerhalb dieses Verfahrens im Rahmen des Vertretbaren bewegen. Die Berechnung des Existenzminimums anhand eines Warenkorbes notwendiger Güter und Dienstleistungen mit anschließender Ermittlung und Bewertung der dafür zu entrichtenden Preise ist in gleicher Weise wie der Einsatz einer Verbrauchsstatistik für die Berechnung der Leistungshöhe zulässig (vgl. BVerfGE 125, 175 (234 f.)).

Das Bundesverfassungsgericht prüft deshalb, ob der Gesetzgeber das Ziel, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, in einer Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG gerecht werdenden Weise erfasst und umschrieben hat, ob er im Rahmen seines Gestaltungsspielraums ein zur Bemessung des Existenzminimums im Grundsatz taugliches Berechnungsverfahren gewählt hat, ob er die erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt und schließlich, ob er sich in allen Berechnungsschritten mit einem nachvollziehbaren Zahlenwerk innerhalb dieses gewählten Verfahrens und dessen Strukturprinzipien im Rahmen des Vertretbaren bewegt hat (BVerfG, Urteil vom 09. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 –, BVerfGE 125, 175-260, Rn. 143).

Nach diesen Maßstäben hätte es zur Quantifizierung des Existenzminimums unter den durch die COVID-19-Pandemie veränderten Lebensbedingungen gemäß § 20 SGB II i.V.m. § 1 RBEG einer Neuberechnung der Bedarfe bedurft. Hierbei stand es dem Gesetzgeber frei, die temporär gebotenen Anpassungen nicht im Wege einer sehr zeitaufwendigen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe über die Verbrauchsausgaben einkommensschwacher Haushalte zu ermitteln. Vielmehr hätte der Gesetzgeber die durch anlässlich der Corona-Pandemie notwendigen Änderungen der Regelbedarfe auch unter Zugrundelegung des Warenkorbmodells ermitteln dürfen. Dieses wäre hinreichend zeitnah möglich gewesen, zum Ausgleich der geminderten Verlässlichkeit des Warenkorbmodels ein Sicherheitszuschlag gewährt werden kann.

Die spezifischen Eigenheiten eines pandemie(-inflations-)bedingt veränderten Warenkorbes hätten ohne unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand zeitnah ermittelt werden können. Namentlich wäre die ergänzende Einbeziehung erstmalig zum Infektionsschutz notwendiger Güter (z. B. FFP2-Masken) und Dienstleistungen (z. B. Coronatestungen) ebenso möglich gewesen wie der etwaige pandemiebedingte Wegfall einzelner Bedarfsanteile (etwa für den Besuch von Theatervorstellungen während eines Lockdowns). Den hiermit verbundenen Verwaltungsaufwand hätte der umfangreiche Apparat einer riesigen Ministerialbürokratie im Bundesarbeitsministerium bzw. des zuständigen Ausschusses Deutschen Bundestags auf der Grundlage normativer Wertentscheidungen, fachkundiger Schätzungen und wissenschaftlich begleiteter Prognosen näherungsweise bewältigen können. Dies wäre mithilfe des Warenkorbmodells nicht nur einmalig, sondern fortlaufend umsetzbar und verfassungskräftig geboten gewesen. Dergestalt wäre der Regelbedarf mtl. fortschreibbar gewesen unter integrativer Ermittlung und Bewertung der pandemiebedingt in schwankender Höhe zu entrichtenden Preise bzw. Preissteigerungen. Hierbei hätte namentlich auch die für einige Güter und Dienstleistungen enorme Inflation ebenso Beachtung finden können wie der (angesichts der sich wellenförmig bzw. saisonbedingt bzw. virusvariantenbedingt steigenden bzw. sinkenden Infektionszahlen und der sich sukzessive anpassenden Corona-Politik) wechselnde Bedarf an Masken, Schnelltests, Impfungen, etc. bzw. die sich insofern weiterentwickelnden Erkenntnisse bzw. Vorstellungen von Wissenschaft und Gesellschaft.

Unter Verletzung all dessen hat der Gesetzgeber die Höhe der anlässlich der COVID-19-Pandemie existenznotwendigen Aufwendungen hilfebedürftiger Menschen nicht folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht ermittelt. Im Widerspruch zu den verfassungsgerichtlich erkannten Beurteilungsmaßstäben und den einfachgesetzlichen Vorgaben ist den Drucksachen des Bundestages zu § 70 SGB II n. F. (BT-Drucksachen) in voraussichtlich verfassungswidriger Weise nicht ansatzweise zu entnehmen, warum eine Einmalzahlung für den Monat Mai 2021 in Höhe von 150,- EUR den Mehrbedarf aufgrund der COVID-19-Epidemie für die Monate Januar 2021 bis Juni 2021 decken sollte. Zur Begründung des geplanten § 70 SGB II heißt es in der Gesetzesbegründung lediglich:

"Die Regelung schafft einen Anspruch auf eine einmalige pauschale Zusatzleistung zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen. Wegen der unvorhersehbaren Entwicklung der Pandemie war es Leistungsberechtigten teilweise nur unter erschwerten Bedingungen möglich, für diese Belastungen Vorsorge zu treffen. Zusätzliche finanzielle Belastungen ergeben sich z. B. aus der Notwendigkeit, Schnelltests auf eigene Kosten durchzuführen, um ältere Verwandte besuchen zu können oder aus der Versorgung mit nötigen Hygieneprodukten und Gesundheitsartikeln. Zusatzbelastungen entstehen z. B. durch Ausgaben für die häusliche Freizeitgestaltung, insbesondere für Familien mit Kindern. Unterstützung ist deshalb durch eine Einmalzahlung vorgesehen.

Die Einmalzahlung soll so wenig verwaltungsaufwendig wie möglich erbracht werden. Sie ist deshalb an einen bestehenden Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld im Monat Mai gebunden und wird in der Folge von Amts wegen erbracht. Sie wird nur an Leistungsberechtigte erbracht, deren Regelbedarf sich nach Regelbedarfsstufe 1 oder 2 richtet. Das berücksichtigt, dass für Kinder, für die ein Anspruch auf Kindergeld besteht, die Zahlung eines Kinderbonus in gleicher Höhe vorgesehen ist, der nach dem Gesetz über die Nichtanrechnung des Kinderbonus nicht als Einkommen zu berücksichtigen ist. Leistungsberechtigte mit Regelbedarfsstufe 3 erhalten die Einmalzahlung nur dann, wenn im Monat Mai kein Kindergeld als Einkommen berücksichtigt wird.

Wird Kindergeld berücksichtigt, ist davon auszugehen, dass der Kinderbonus zusteht. Aus technischen Gründen ist eine separate Auszahlung abweichend von dem üblichen Zahlungstermin für das Arbeitslosengeld II und Sozialgeld möglich; durch die Anknüpfung an den Leistungsanspruch im Monat Mai erfolgt die Zahlung im Regelfall ebenfalls im Monat Mai. Der Nachweis konkreter Mehraufwendungen im Einzelfall ist nicht erforderlich. Die Einmalzahlung erfolgt unabhängig von der Berechnung des Arbeitslosengeldes II/des Sozialgeldes; insbesondere ist die Einmalzahlung nicht in die Bedarfsberechnung und auch nicht in die Berechnung nach § 9 Abs. 2 Satz. 3 SGB II einzubeziehen."

Nach alldem hat der Gesetzgeber bei der Einführung von § 70 Satz 1 SGB II die Anforderungen an die Gesetzesbegründung nicht erfüllt. Daher wird in der Literatur teilweise auch unumwunden festgestellt, dass es an einer statistisch-empirischen Begründung des Betrags von 150,- EUR fehlt (vgl. Groth in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 70 1. Überarbeitung (Stand: 15.12.2021), Rn. 15). [...]

Für zusätzliche Bedarfe, die so laufend und so regelmäßig anfallen wie Mehraufwendungen im Zusammenhang mit einer jahrelang andauernden Pandemie gilt vielmehr uneingeschränkt die verfassungsrechtlich Vorgabe, wonach der Gesetzgeber zur Ermittlung des Umfangs des Anspruchs auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 I GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 I GG alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen hat, und den typischen Bedarf zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums durch einen mtl. Festbetrag decken kann, aber für einen darüber hinausgehenden unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarf einen zusätzlichen Leistungsanspruch einräumen muss (vgl. BVerfG, Urteil vom 09. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 –, BVerfGE 125, 175-260, Rn. 139, juris)."

Aus all diesen Ausführungen - die man fürwahr auch aus der Lektüre des BVerfG-Urteils selbst hätte schlussfolgern können und sollen - folgt meines Erachtens zwingend, dass das Handeln des Gesetzgebers evident verfassungswidrig war (zu dem Ergebnis kam auch das SG Karlsruhe). Richter Figura und die im Rahmen des Strafverfahrens bearbeitenden Staatsanwälte verweigern sich willkürlich jener Einsicht, nehmen gerade keine hinreichende Subsumtion des Tatbestandes unter die vom BVerfG aufgestellten und zwingend zu beachtenden Maßstäbe vor und würdigen damit den Sachverhalt unzureichend. Das führt nicht nur zu einem objektiv unvertretbarem Ergebnis, sondern stellt auch eine strafwürdige objektiv falsche Anwendung des Rechts dar - eine weitere Anzeige wegen Rechtsbeugung und Strafvereitelung im Amt ist damit schon auf dem Weg zu ihren Kollegen, Herr Henkelmann!

Angesichts des Ausmaßes des Aufrecht erhaltenen Unrechts sollten noch viel mehr Bürger auf die Straße gehen, um ihren Unmut über diese offensichtlichen Rechtsbrüche Ausdruck zu verleihen.

Update: Die anbei stehende Dienstaufsichtsbeschwerde habe ich der Behördenleiterin zukommen lassen und bin schon auf die Antwort gespannt.

Sehr geehrte Frau Generalstaatsanwältin Busse,

ich wende mich mit dieser Dienstaufsichtsbeschwerde an Sie, um auf ernsthafte Bedenken hinsichtlich der staatsrechtlichen Kenntnisse von Staatsanwalt Henkelmann aus Ihrem Hause aufmerksam zu machen. Mein Anliegen ist es, auf mögliche Missstände in der juristischen Ausbildung und Fachkompetenz innerhalb Ihrer Behörde hinzuweisen und auch zu rügen. In dem konkreten Fall, den Herr Henkelmann zu bearbeiten hatte (Bescheid vom 10.1.2024, Az.: 2 Zs 724/23) behauptet Herr Henkelmann, dass für das Sozialgericht Schwerin insbesondere Normen des SGB2 Prüfungsmaßstab seien und verkennt auch zu würdigen, was das Bundesverfassungsgericht in seinem Hartz-IV-Urteil für verbindliche Maßstäbe aufgestellt hatte (BVerfG, Urt. v. 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, Rn. 137 - 144) und warum das Sozialgericht Schwerin bei der von mir gerügten Ausgangsentscheidung das Recht gebeugt haben sollte.

Um ihrem Mitarbeiter etwas auf die Sprünge zu helfen, gehe ich gerne für Sie einmal hierauf vertieft auf die sich im Ausgangsfall stellenden Rechtsfragen ein:

1. Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt. Wenn der Gesetzgeber seiner verfassungsmäßigen Pflicht zur Bestimmung des Existenzminimums nicht hinreichend nachkommt, ist das einfache Recht im Umfang seiner defizitären Gestaltung verfassungswidrig (BVerfG, Urt. v. 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, Rn. 137).

2. Der Gesetzgeber hat alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen (BVerfG, Urt. v. 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, Rn. 139). Dies ist im Fall der Corona-Hilfen aus den dazu einschlägigen Bundestagsdrucksachen nicht ersichtlich.

3. Das dergestalt gefundene Ergebnis ist zudem fortwährend zu überprüfen und weiter zu entwickeln, weil der elementare Lebensbedarf eines Menschen grundsätzlich nur in dem Augenblick befriedigt werden kann, in dem er besteht. Der Gesetzgeber hat daher Vorkehrungen zu treffen, auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Preissteigerungen oder Erhöhungen von Verbrauchsteuern, zeitnah zu reagieren, um zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen, insbesondere wenn er wie in § 20 Abs. 2 SGB II einen Festbetrag vorsieht (BVerfG, Urt. v. 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, Rn. 140). Dies bedeutet, dass dem Gesetzgeber eine Beobachtungspflicht trifft und er bei plötzlichen Veränderungen der Umstände nicht erst irgendwann in ferner Zukunft, sondern so schnell wie möglich zu reagieren hat. Dies ist hier gerade in Fall der Corona-Hilfen unterblieben, die sogenannte Hilfe kam um mehrere Monate zu spät und war der Höhe nach unzureichend (SG Karlsruhe, Urteil vom 6.6.23, Az.: S 12 AS 2208/22).

4. Zur Ermöglichung [der] verfassungsgerichtlichen Kontrolle besteht für den Gesetzgeber die Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offenzulegen. Kommt er ihr nicht hinreichend nach, steht die Ermittlung des Existenzminimums bereits wegen dieser Mängel nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang (BVerfG, Urt. v. 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, Rn. 144). Der Gesetzgeber muss also im Gesetzgebungsverfahren offenlegen, wie er zu der Bestimmung des Existenzminimums gelangt ist, so dass diese Ermittlungsmethode erst nachprüfbar wird. Dies ist hier in den einschlägigen Bundestagsdrucksachen nicht offengelegt worden.

Man möchte meinen diese verfassungsrechtlichen Maßstäbe wurden durch das Bundesverfassungsgericht eindeutig genug formuliert, dass sogar ein nicht im Staatsrecht täglich arbeitender Staatsanwalt zu der Schlussfolgerung fähig wäre, dass der Gesetzgeber mit seiner Einmalzahlung aus 2021 diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen erkennbar nicht genügte. Eine aufmerksame Lektüre des Urteils des SG Karlsruhe (a.a.O.) hätte ihn auch dazu befähigt, diese Maßstäbe auf den sich konkret stellenden Fall anzuwenden. Zu einer solchen Geistesleistung sollte jeder der bei Ihnen angestellten Volljuristen in der Lage sein, um seinen Beruf nach den Regeln der Kunst auszuüben. Eine Verkennung dieser verfassungsrechtlichen Maßstäbe hat auch zur Folge, dass ein Sozialrichter materielles Recht bricht, wenn er diese nach § 31 Abs. 1 BVerfGG zwingenden Teil des materiellen Rechts, wissentlich bei seiner Entscheidung außer Acht lässt, wie hier in Az.: S 11 AS 101/21 (SG SN) durch den Angeschuldigten Richter Figura geschehen. Damit liegen die Voraussetzungen einer Rechtsbeugung sowohl im objektiven Tatbestand vor, die Schwere der Verletzung indiziert nach Rechtsprechung des BGH auch die Verwirklichung des subjektiven Tatbestands (BGHSt 59, 144-150).

Im Übrigen sei angemerkt, dass die Ausführungen zu dem Prüfungsmaßstab des Sozialgerichts seit dem Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts - und damit seit 1958 - nicht länger haltbar sind (BVerfGE 7, 198), die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte ist seither ein tief verankerter Eckpfeiler des Grundrechtsschutzes der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland, so dass diese über Art. 1 Abs. 3 GG als Ausdruck einer objektiven Wertentscheidung auch bei der Anwendung einfachen Rechts zwingend von allen staatlichen Gewalten zu berücksichtigen sind. Hier werden diese verfassungsrechtlichen Einflüsse bei der Tathandlung, der Rechtsbeugung, relevant. Schon dies in Frage zu stellen, lässt nicht nur gravierende Lücken der Kenntnisse im Staatsrecht bei Staatsanwalt Henkelmann erkennen, es ist auch besorgniserregend, wie hiermit das zwingend bei allem staatlichen Handeln zu beachtende Verfassungsrecht gänzlich negiert wird. Denn jenes stellt einen wichtigen und zwingend zu beachtenden Teil des materiellen Rechts der Bundesrepublik überhaupt dar.

Die Unkenntnis grundlegender staatsrechtlicher Prinzipien und Normen wirft jedenfalls erhebliche Fragen zur Qualität der Rechtsdurchsetzung in ihrem Hause auf. In jedem Fall bedarf es disziplinarrechtlicher Maßnahmen, um das in dem Bescheid hervorgetretene unsorgfältige Arbeiten des Staatsanwalts Henkelmann angemessen zu sanktionieren.

Ich danke Ihnen im Voraus für die Aufmerksamkeit, die Sie dieser Angelegenheit schenken, und bitte um Antwort mit einer Frist von zwei Wochen. Selbstredend behalte ich mir vor den Inhalt der Antwort zu veröffentlichen, um größtmögliche Transparenz darüber herzustellen, wie im ihren Hause mit dem Recht gearbeitet wird und welche Konsequenzen man bei Ihnen daraus zieht.

Mit freundlichen Grüßen
Ass. iur. Marcus Seyfarth, LL.M.

Update 2: Hier die Replik durch den Leitenden Oberstaatsanwalt Dr. Fiedler vom 24.1.24:




Meine Reaktion hierauf vom 27.1.24 an das Justizministerium M-V ließ selbstredend nicht lange auf sich warten. Dr. Fiedler hat offensichtlich mein Begehren falsch verstanden und kämpft sich mit seinen Ausführungen weitgehend an einem Strohmann ab, so dass dessen Ausführungen ins Leere gehen. I
n der sozialgerichtlichen Sache ist bereits Berufung bzw. Nichtzulassungsbeschwerde vor dem LSG MV eingelegt worden. Für die strafrechtliche Seite ist nunmehr die Würdigung strittig, ob ein Anfangsverdacht für eine Rechtsbeugung vorliegt. Der zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens erforderliche „Anfangsverdacht” liegt gemäß § 152 Abs. 2 StPO vor, wenn „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte” für eine „verfolgbare Straftat” vorhanden sind. Die Prüfung des Anfangsverdachts hat somit in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu erfolgen und ergibt sich in diesem Fall meiner Sicht nach zwingend aus dem Urteil des SG SN vom 19.7.23 - S 11 AS 101/21 in Zusammenschau mit dem Urteil des BVerfG, Urt. v. 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, Rn. 137 - 144 und die verfassungsrechtlichen Zusammenhänge lassen sich beim SG Karlsruhe, Urteil vom 6.6.23, Az.: S 12 AS 2208/22 mühelos nachlesen. Das können oder wollen die beteiligten Staatsanwälte aber einfach nicht begreifen. Zu meiner Antwort:

Sehr geehrte Justizministerin Bernhardt,
sehr geehrter Herr Scholz,

nunmehr liegt mir in der Angelegenheit der Rechtsbeugung durch Richter des Sozialgerichts SN (durch Urteil vom 19.7.23 - S 11 AS 101/21, vgl. den dazu bislang bereits mit dem Justizministerium erfolgten Austausch in Az. 330/1402E-74/23) die Antwort der Generalstaatsanwaltschaft vom 24.1.2024 (Az: 2 Zs 724/23) vor.

Dort wird durch den leitenden Oberstaatsanwalt Dr. Fiedler erneut der Sachverhalt unzutreffend festgestellt und bewertet. Mir wird fälschlicherweise verkürzend unterstellt, mir ginge es darum zu monieren, dass die Staatsanwaltschaft nicht der Rechtsauffassung des SG Karlsruhe folge. Diese Verkürzung wird der Komplexität des Falles nicht gerecht und stellt mithin eine unzutreffende Würdigung meines Vorbringens dar. Mir geht es vielmehr darum, die Nichtanwendung der in 2010 entwickelten verfassungsrechtlichen Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Urt. v. 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, Rn. 137 - 144), welche das SG SN willkürlich außer Acht gelassen hatte, einer strafrechtlichen Ahndung zuzuführen. Die Entscheidung des SG SN stand offenkundig nicht mehr im Einklang mit der verfassungsrechtlich geschützten Sicherung des Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG), so dass sie dazu beitrug, einen verfassungsrechtlich unhaltbaren Zustand aufrechtzuerhalten. Da das Verfassungsrecht Teil des materiellen Rechts ist, ist ein Verstoß hiergegen auch von § 339 StGB geschützt. § 339 StGB ist gerade dazu geschaffen worden, den Bürger vor einer willkürlichen Missachtung des Rechts durch qualifizierte Amtspersonen zu schützen. Diese geltenden verfassungsrechtlichen Maßstäbe, die auch für die Feststellung der Tathandlung einer Rechtsbeugung essentiell sind, haben die Staatsanwaltschaften bislang willkürlich außer Acht gelassen - ein hinreichender Tatverdacht drängt sich durch die hierzu bereits meinerseits geschilderten rechtlichen Darlegungen geradezu auf.

Alle hiermit bislang befassten Staatsanwälte verkennen, dass dieses Urteil des SG Karlsruhe lediglich exemplarisch für ein Gericht steht, das die einzigen gebotenen Schlüsse aus den vom Bundesverfassungsgericht in BVerfG, Urt. v. 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, Rn. 137 - 144 aufgestellten Maßstäben gezogen hatte. Die von mir angezeigten Staatsanwälte und Richter des SG SN haben sich in unvertretbarer Art und Weise einer eigenen, den Regeln der Kunst genügenden Auslegung dieser verfassungsrechtlichen Maßstäbe entzogen und mithin diesen verfassungsrechtlich verbürgten Teil des materiellen Rechts willkürlich verkannt. Dass daneben auch andere Sozialgerichte, wie das in Bezug genommene LSG NRW, ebenfalls diese Maßstäbe in grober Verkennung der Sach- und Rechtslage missachtet haben, entlastet die Richter des SG SN keinesfalls. Andernfalls dürfte sich eine das Recht beugende Rechtsansicht straflos perpetuieren dürfen - ohne Konsequenzen für die das Unrecht aufrecht erhaltenden Richter. Ich denke, ich brauche nicht gesondert zu erwähnen, dass es sich hier auch nicht um einen leicht fahrlässigen Kunstfehler oder um eine ungeklärte, offene Rechtsfrage handelte, sondern wegen expliziten Rügens innerhalb des Verfahrens und der klaren Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts es sich um einen elementaren Verstoß von Recht im Sinne des BGH handelte. Dass eine solche Reaktion beim betroffenen Bürger - der in diesem Fall auch ein Experte im Öffentlichen Recht ist - auf keinerlei Verständnis trifft, dürfte deshalb kaum überraschen. Die Staatsanwaltschaften sind auch über Art. 1 Abs. 3 GG an die Achtung der Grundrechte gebunden und ich werde deshalb alle hierfür Verantwortlichen weiterhin zur Verantwortung ziehen, die den Bürger in seinen von der Verfassung geschützten Rechten beschneiden.

Ich bitte Sie daher erneut von Ihrem Weisungsrecht Gebrauch zu machen, um ein entsprechende Strafverfahren gegen die Verantwortlichen einzuleiten sowie wegen Rechtsbeugung und Strafvereitelung im Amt auch gegen sämtliche das Vorhaben unzureichend würdigende Staatsanwälte zu ermitteln (siehe dazu: BGH, Beschl. vom 14.9.2017 - 4 StR 274/16). Dies scheint mir die eines Rechtsstaats würdige Reaktion zu sein, die wahrlich auch einiges an Courage bedarf. Ein Klageerzwingungsverfahren vor dem OLG Rostock befindet sich bereits in Vorbereitung. Ich denke, das Ansehen der Justiz im Land - und damit auch Ihrer Verantwortung als Justizministerin - nähme beträchtlichen Schaden, wenn die Staatsanwaltschaft zum gebotenen Handeln erst durch das OLG Rostock gezwungen werden müsste. Durch ein Einschreiten hingegen würden Sie zeigen, für die Achtung der Grundrechte der Bürger im Land einzutreten und Fehler der Behörde und Gerichte persönlich zu korrigieren.

Mit freundlichen Grüßen
Ass. iur. Marcus Seyfarth, LL.M.

Update 3: Mittlerweile gibt es weiteren Schriftverkehr zu den folgenden Verfahren wegen Rechtsbeugung und Strafvereitelung im Amt zu den die Sache nicht weiterverfolgenden Staatsanwälten. Da durch die zuständigen Staatsanwaltschaften keine neuen Gesichtspunkte aufgeworfen werden - man hat sich der Sache nach auf die Linie der Generalstaatsanwaltschaft eingeschossen und sieht keinerlei Anlass es anders zu sehen, sehe ich von einer Veröffentlichung dieser nicht weiter beachtlichen Schreiben vorerst ab. Neue Erkenntnisse wird es dann wohl erst am Ende des vorbereiteten Klageerzwingungsverfahrens geben.

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