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Der Fall Brosius-Gersdorf – Eine Lektion in richterlicher Nichteignung

Einleitung: Die Inszenierung des Opfers als Angriff auf das Amt

Es gibt Momente in der politischen Landschaft der Bundesrepublik, die mehr über den Zustand unserer Institutionen und das Selbstverständnis ihrer Akteure verraten als lange Abhandlungen. Der Auftritt der von der SPD für das Bundesverfassungsgericht nominierten Staatsrechtlerin Frauke Brosius-Gersdorf in der ZDF-Talkshow von Markus Lanz war ein solcher Moment. Angekündigt als Versuch, "zur Versachlichung der Debatte" beizutragen, entfaltete sich vor den Augen eines Millionenpublikums das genaue Gegenteil: eine emotionale, strategisch fehlgeleitete und in der Sache entlarvende Selbstdemontage, die tiefe Zweifel an der Eignung der Kandidatin für das höchste deutsche Richteramt nicht nur bestätigte, sondern unabweisbar machte.

Der Vorgang ist beispiellos. Eine Kandidatin für das Verfassungsgericht, die nach einer im parlamentarischen Verfahren gescheiterten Wahl nicht die staatsmännische Stille sucht, sondern, flankiert von Medienanwälten einer Kanzlei, die ausgerechnet regelmäßig die Bundesregierung vertritt, die mediale Offensive. Sie tritt nicht als demütige Dienerin des Rechts auf, die sich dem Urteil der Verfassungsorgane beugt, sondern als Anklägerin. Sie klagt die Presse an, die Politik, die Kirche. Sie inszeniert sich als Opfer einer Kampagne und verkennt dabei, dass sie selbst zur aktivsten Protagonistin einer Kampagne geworden ist – ihrer eigenen.

Aus liberal-konservativer Sicht ist dieser Vorgang mehr als nur ein politisches Ungeschick. Er ist ein Lehrstück über das verlorene Ethos richterlicher Zurückhaltung, ein Dokument des Missverständnisses über die Natur des Richteramtes und eine Offenbarung radikaler Rechtspositionen, die mit den Grundfesten unserer Verfassungsordnung unvereinbar sind. Dieser Beitrag wird in mehreren Teilen die Causa Brosius-Gersdorf analysieren: erstens das fundamentale Fehlen richterlicher Souveränität, zweitens das naive oder gar zynische Lamento über die angebliche "Politisierung" eines inhärent politischen Prozesses und drittens, im Kern der Auseinandersetzung, die inhaltliche Ungeheuerlichkeit ihrer akademischen Positionen, die sie nun als bloße "wissenschaftliche Dilemmata" zu verharmlosen sucht.

Das Ethos des Richters: Souveränität statt Selbstverteidigung im Rampenlicht

Das Bundesverfassungsgericht ist kein gewöhnliches Gericht. Seine Richter sprechen nicht nur Recht, sie verkörpern es. Sie sind die Hüter der Verfassung, die letzte Instanz, die dem Recht Geltung verschafft, auch und gerade gegen politische Mehrheiten. Dieses außerordentliche Amt verlangt eine außerordentliche Persönlichkeit. Es verlangt nicht nur juristische Exzellenz, sondern charakterliche Festigkeit, persönliche Integrität und vor allem eine Souveränität, die über den Niederungen des tagespolitischen Streits steht. Ein Verfassungsrichter spricht durch seine Urteile, nicht durch Pressemitteilungen seiner Anwälte oder emotionale Appelle in Talkshows. Er muss Kritik ertragen können, ohne sie persönlich zu nehmen, und Angriffe aushalten, ohne zum Gegenangriff überzugehen.

Frauke Brosius-Gersdorf hat in aller Öffentlichkeit das genaue Gegenbild zu diesem Ideal entworfen. Ihr Auftritt war nicht der einer souveränen Juristin, sondern der einer tief gekränkten Privatperson, die sich im Recht fühlt und Genugtuung fordert. "Das kann ich mir nicht länger gefallen lassen", verkündete sie mit bebender Stimme. Eine Aussage des Bamberger Erzbischofs Herwig Gössl, der im Zusammenhang mit ihren Positionen von einem "Abgrund an Intoleranz und Menschenverachtung" sprach, nannte sie "infam" und "besonders verstörend".

Man mag über die Wortwahl des Erzbischofs streiten. Doch die Reaktion der Kandidatin ist das eigentliche Problem. Anstatt die Kritik als Teil einer legitimen, wenn auch scharfen öffentlichen Debatte über ihre Eignung zu begreifen, wertet sie diese als persönlichen Affront, als Verletzung ihrer Ehre. Ein Kandidat für das höchste Richteramt, der Kritik nicht mit stoischer Gelassenheit begegnet, sondern mit dem Vokabular der Ehrverletzungsklage, demonstriert ein fatales Defizit an der für dieses Amt unabdingbaren Resilienz und Distanz. Er oder sie zeigt, nicht zwischen der öffentlichen Rolle und der privaten Empfindlichkeit trennen zu können. Die Robe des Richters ist kein Schutzschild für persönliche Eitelkeiten; sie ist ein Symbol für die Unterwerfung unter das Recht, die auch die Unterwerfung unter die öffentliche Kontrolle einschließt.

Der Gipfel dieser fehlgeleiteten Selbstverteidigung war jedoch ihr Versuch, den kirchlichen Kritiker juristisch zu maßregeln. In einer anmaßenden Zurechtweisung erklärte sie: "Ich möchte einfach mal daran erinnern, dass auch Vertreter der katholischen Kirche an die Verfassungswerte unseres Grundgesetzes gebunden sind und damit auch an meine Menschenwürde und mein Persönlichkeitsrecht – einfach bitte darüber mal nachdenken."

Dieser Satz ist in seiner juristischen Unschärfe und seiner rhetorischen Anmaßung kaum zu überbieten. Er ist ein Offenbarungseid für eine Professorin des Öffentlichen Rechts. Selbstverständlich bindet das Grundgesetz gemäß Artikel 1 Absatz 3 primär "die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht". Es entfaltet seine Wirkung gegenüber Privaten – und dazu zählt auch ein Bischof in seiner Meinungsäußerung – nur mittelbar über die Generalklauseln des Zivil- und Strafrechts. Eine direkte, unmittelbare Bindung eines Kirchenvertreters an das Persönlichkeitsrecht einer Richterkandidatin in der von ihr suggerierten Form ist eine juristische Fiktion.

Was hier zutage tritt, ist weitaus schlimmer als ein bloßer Lapsus im Eifer des Gefechts. Es offenbart eine Geisteshaltung, die die Verfassung nicht als Ordnung versteht, der man dient, sondern als Waffe, die man im persönlichen Meinungskampf gegen seine Gegner richtet. Wer das Grundgesetz derart instrumentalisiert, um einen Kritiker mundtot zu machen, wer die komplexen und austarierten Wirkungsweisen der Grundrechte derart verkürzt und verbiegt, um die eigene Position zu immunisieren, der disqualifiziert sich für ein Amt, dessen vornehmste Aufgabe die sorgsame und weise Auslegung ebenjener Verfassung ist.

Die Flucht in die mediale Öffentlichkeit, die Beauftragung einer spezialisierten Kanzlei, die Formulierung einer schriftlichen Verteidigung – all dies sind Instrumente des politischen Kampfes, nicht des rechtsstaatlichen Diskurses um ein Richteramt. Wer diese Instrumente wählt, verlässt den Boden der richterlichen Contenance und begibt sich in die politische Arena. Damit widerlegt Brosius-Gersdorf selbst ihren eigenen Vorwurf, sie sei keine "Aktivistin". Ihr gesamtes Verhalten der letzten Tage ist der reinste Aktivismus: der Aktivismus einer Person, die eine politische Niederlage nicht akzeptieren will und nun versucht, mit den Mitteln der Öffentlichkeitsarbeit ein Ergebnis zu erzwingen, das ihr auf dem vorgesehenen verfassungspolitischen Weg versagt blieb.

Das Ethos des Richters verlangt Zurückhaltung, Mäßigung und die Fähigkeit, die eigene Person hinter das Amt zurücktreten zu lassen. Frauke Brosius-Gersdorf hat das Gegenteil demonstriert. Sie hat ihre Person und ihre Verletztheit in den Mittelpunkt gerückt und damit gezeigt, dass ihr das Gespür für die Würde und die ungeschriebenen Gesetze des Amtes, das sie anstrebt, fundamental fehlt. Schon allein dieser Befund müsste für die an der Wahl beteiligten politischen Kräfte ausreichen, um ihre Nominierung als einen schweren Irrtum zu erkennen und zu korrigieren.

Teil 2: Der Trugschluss von der "unpolitischen" Wahl – Ein Angriff auf die demokratische Legitimation des Gerichts

Nachdem im ersten Teil die fundamentale Diskrepanz zwischen dem für das Richteramt erforderlichen Ethos der Souveränität und der von Frauke Brosius-Gersdorf zur Schau gestellten Rhetorik der persönlichen Verletztheit beleuchtet wurde, muss der Blick nun auf einen zweiten, ebenso gravierenden Aspekt ihres öffentlichen Auftretens gelenkt werden: ihr tiefgreifendes Missverständnis – oder ihre strategische Umdeutung – des verfassungsrechtlich vorgesehenen Wahlverfahrens für die Richter des Bundesverfassungsgerichts. Ihr Lamento über eine angebliche "Politisierung" der Wahl, die sie für "brandgefährlich" hält und sich "nicht in ihren schlimmsten Träumen hätte vorstellen können", ist nicht nur historisch ahnungslos und staatsrechtlich abwegig. Es ist im Kern ein Angriff auf ebenjenen Mechanismus, der dem Gericht in Karlsruhe seine einzigartige Autorität und seine breite demokratische Legitimation verleiht.

Die gewollte Politikhaftigkeit der Richterwahl: Ein Meisterstück der Verfassungsväter

Wer die Wahl von Verfassungsrichtern als einen Akt betrachtet, der jenseits des Politischen in einem reinen Raum akademischer oder juristischer Meriten stattzufinden habe, hat das Wesen der Gewaltenteilung in der Bundesrepublik Deutschland nicht verstanden. Artikel 94 des Grundgesetzes regelt unmissverständlich: "Die Richter des Bundesverfassungsgerichts werden je zur Hälfte vom Bundestage und vom Bundesrate gewählt." Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht präzisiert, dass hierfür eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist.

Diese hohe Hürde ist kein Zufall und keine Betriebspanne der Verfassungsgeschichte. Sie ist die geniale Antwort der Mütter und Väter des Grundgesetzes auf das Scheitern von Weimar und die Pervertierung des Rechts im Nationalsozialismus. Die Zweidrittelmehrheit zwingt die großen politischen Lager zum Konsens. Sie verhindert, dass eine bloße Regierungsmehrheit das Gericht mit Richtern besetzen kann, die allein ihr politisches Programm widerspiegeln. Sie sorgt für eine personelle Zusammensetzung, die die pluralistische Gesellschaft in ihren Grundüberzeugungen repräsentiert und stellt sicher, dass die Richter eine breite Akzeptanz genießen, die weit über ein einzelnes politisches Lager hinausgeht. Dieser Prozess ist per definitionem, per Verfassungsauftrag, ein eminent politischer Akt. Er ist die demokratische Rückbindung des mächtigsten Gerichts der Republik an den Volkswillen, vermittelt durch die gewählten Repräsentanten.

Wenn Frauke Brosius-Gersdorf nun eine solche, seit über 70 Jahren bewährte Praxis als "brandgefährlich" für den Rechtsstaat denunziert, offenbart sie eine bemerkenswerte Ignoranz gegenüber den Grundlagen ihrer eigenen Disziplin. Oder, was schlimmer wäre, sie versucht bewusst, einen legitimen politischen Aushandlungsprozess zu delegitimieren, nur weil dessen Ergebnis ihr nicht genehm ist. Die Behauptung, dieser Vorgang dürfe sich "nie mehr wiederholen", ist eine anmaßende Forderung, die verfassungspolitische Realität auf den Kopf zu stellen. Das Gegenteil ist richtig: Der Vorgang – dass Parteien einen Kandidaten genau prüfen und bei fundamentalen Meinungsverschiedenheiten ihre Zustimmung verweigern – ist ein Zeichen für die Lebendigkeit und Funktionsfähigkeit unserer Verfassungsdemokratie. Die Gefahr für den Rechtsstaat geht nicht von der gewissenhaften Ausübung dieses parlamentarischen Prüfungsrechts aus, sondern von Kandidaten, die dieses Recht nicht anerkennen wollen.

Der Kern von Brosius-Gersdorfs Unverständnis zeigt sich in ihrer Reaktion auf die Kritik aus den Reihen der Union. Sie kann nicht nachvollziehen, warum der CSU-Fraktionsvorsitzende Klaus Holetschek ihr "Aktivismus" vorwirft und aufgrund ihrer Abtreibungsposition Probleme mit seinem "christlichen Wertefundament" anmeldet. Ebenso wenig vermag sie zu verstehen, weshalb ihre Thesen "einen Angriff auf die DNA" der CDU darstellen könnten. Ihre Antwort: "Nein, das kann ich nicht nachvollziehen, weil ich keine Aktivistin bin – die ganzen Zuschreibungen sind einfach schlicht falsch!"

Diese Reaktion ist entlarvend. Sie verweigert dem politischen Gegenüber das Recht auf eine eigene, wertgebundene Urteilsbildung. Es ist nicht nur das Recht, sondern die Pflicht eines Abgeordneten, der seinem Gewissen und seinen Wählern verpflichtet ist, einen Kandidaten für das Verfassungsgericht auch und gerade an seinen grundlegenden rechtsphilosophischen und ethischen Überzeugungen zu messen. Die Wahl eines Verfassungsrichters ist keine Einstellung eines Abteilungsleiters in einem Ministerium, bei der es allein auf formale Qualifikation ankommt. Es geht um die Berufung einer Persönlichkeit, die für 12 Jahre an der Interpretation des sittlichen und rechtlichen Fundaments unseres Gemeinwesens mitwirken wird.

Zu behaupten, die Prüfung, ob die Thesen einer Kandidatin mit dem christlichen Menschenbild, das für weite Teile der Union identitätsstiftend ist, vereinbar sind, sei eine unzulässige Politisierung, ist absurd. Es ist vielmehr der Kern des politischen Mandats. Die Abgeordneten der Union, aber auch anderer Parteien, sind gewählt, um bestimmte Werte und Überzeugungen in den politischen Prozess einzubringen. Sollen sie diese an der Tür zum Wahlausschuss abgeben? Sollen sie einen Kandidaten durchwinken, dessen akademisches Werk sie als Angriff auf ihre fundamentalsten Überzeugungen werten? Die Vorstellung ist grotesk und zeugt von einem technokratischen Rechtsverständnis, das die normativen und ethischen Grundlagen des Grundgesetzes ignoriert.

Frauke Brosius-Gersdorf verlangt im Grunde, dass ihre Nominierung als alternativloser Akt der Vernunft akzeptiert wird, dem gegenüber jede politisch-weltanschauliche Prüfung als illegitim zu gelten hat. Sie erhebt ihre eigene wissenschaftliche Position zur einzig zulässigen Wahrheit und stempelt abweichende Bewertungen als sachfremd und persönlich motiviert ab. Dies ist die Haltung einer Person, die den demokratischen Diskurs scheut und durch eine Aura unangreifbarer Wissenschaftlichkeit ersetzen will.

Eng damit verbunden ist ihre stete Verteidigungslinie, sie habe lediglich als "Wissenschaftlerin" auf "Problematiken", "Inkonsistenzen" und "verfassungsdogmatische Erörterungsbedarfe" hingewiesen. Diese Selbstbeschreibung als neutrale Analytikerin, die nur Dilemmata aufzeigt, ist eine durchsichtige Schutzbehauptung. In den Rechts-, Geistes- und Sozialwissenschaften gibt es keine wertfreie Position. Die Auswahl des Themas, die Art der Fragestellung, die Methode der Analyse und die präsentierten "Lösungsmöglichkeiten" sind immer von den Grundüberzeugungen des Forschers geprägt.

Wenn eine Staatsrechtlerin die tragende Säule der Rechtsprechung zur Menschenwürde des ungeborenen Lebens nicht als festen Anker, sondern als "verfassungsrechtliches Dilemma" beschreibt, das man auflösen müsse, indem man entweder die Menschenwürde für abwägbar erklärt oder sie dem ungeborenen Leben abspricht, dann ist das keine neutrale Beschreibung. Es ist ein gezielter, dekonstruktivistischer Angriff auf eine der zentralsten und ethisch sensibelsten Linien der Verfassungsrechtsprechung. Das ist nicht nur "Wissenschaft", das ist Rechtspolitik in ihrer reinsten Form. Es ist der Versuch, über den akademischen Diskurs die Axt an die Wurzeln des geltenden Verfassungsverständnisses zu legen. Eine solche Position als "wissenschaftlich" zu adeln, um sie dem politischen Streit zu entziehen, ist intellektuell unredlich.

Ihre Behauptung, eine Einordnung ihrer Positionen in ihrer "Breite" zeige ein "Bild der demokratischen Mitte", ist ein ebenso durchschaubares Manöver. Es spielt keine Rolle, ob sie hundert unstrittige Aufsätze über das Kommunalrecht oder die Verwaltungsdigitalisierung geschrieben hat. Für die Eignung als Verfassungsrichterin kommt es auf die Positionen zu den fundamentalen, den kontroversen, den existentiellen Fragen des Verfassungsrechts an. Und hier verortet sie sich selbst – wie in den folgenden Teilen noch detaillierter zu zeigen sein wird – nicht in der Mitte, sondern an einem radikalen Rand, der mit der etablierten Ordnung brechen will.

Wer diesen Bruch propagiert, ist eine Aktivistin. Ob sie dies im Hörsaal, in Fachzeitschriften oder auf der Straße tut, ist für die politische Bewertung unerheblich. Sich dieser Bewertung durch den Verweis auf die angebliche Neutralität der Wissenschaft entziehen zu wollen, ist ein gescheiterter Versuch, sich aus der politischen Verantwortung für die eigenen Thesen zu stehlen. Frauke Brosius-Gersdorf hat nicht nur das Ethos des Richteramtes missverstanden, sondern auch die demokratischen Spielregeln, nach denen die Hüter dieses Amtes ausgewählt werden.

Teil 3: Die Demontage des Lebensschutzes – Eine radikale Agenda im Gewand der Wissenschaft

Nachdem die vorangegangenen Teile die eklatanten Mängel in Frauke Brosius-Gersdorfs Amtsverständnis und ihr problematisches Verhältnis zum demokratischen Wahlprozess analysiert haben, muss nun der Blick auf den eigentlichen Kern der Kontroverse gerichtet werden: die inhaltlichen Positionen, die sie als Staatsrechtlerin vertritt. Hier, im Zentrum der Auseinandersetzung um ihre Person, offenbart sich die wahre Dimension der Unwählbarkeit. Ihre Thesen, insbesondere zum Schutz des ungeborenen Lebens, sind keine bloßen "wissenschaftlichen Erörterungen", wie sie es verharmlosend darstellt. Sie sind der Entwurf einer radikalen Agenda, die darauf abzielt, eine der tragendsten und ethisch fundamentalsten Säulen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu schleifen: den unbedingten Schutz des menschlichen Lebens von seinem Beginn an.

Das "Dilemma" als rhetorischer Dietrich: Der Angriff auf die Menschenwürde des Ungeborenen

Im Zentrum von Brosius-Gersdorfs Verteidigung steht ihre Klarstellung zur Reform des Schwangerschaftsabbruchs. Sie weist den Vorwurf, sie würde dem ungeborenen Leben die Menschenwürdegarantie absprechen und für einen Schwangerschaftsabbruch bis zur Geburt eintreten, als "falsch" und als "Verunglimpfung" zurück. Ihre Argumentation ist jedoch ein rhetorisches Meisterstück der Vernebelung, das bei genauerer Betrachtung die radikale Stoßrichtung ihrer Thesen erst recht entlarvt.

Sie behauptet, stets dafür eingetreten zu sein, dass dem menschlichen Leben ab der Nidation (Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter) das Grundrecht auf Leben zustehe. Dies klingt zunächst beruhigend und verfassungskonform. Doch der entscheidende Hebel, der juristische Dietrich, mit dem sie die gesamte Schutzarchitektur des Bundesverfassungsgerichts aufbrechen will, liegt in ihrer Unterscheidung zwischen dem "Grundrecht auf Leben" und der "Menschenwürdegarantie".

Ihre Kernthese, die sie als bloße Aufzeigung eines "verfassungsrechtlichen Dilemmas" tarnt, lautet: Wenn man dem ungeborenen Leben ab Nidation die Menschenwürdegarantie zuerkennt, wie sie dem geborenen Menschen zukommt, und wenn diese Menschenwürde, wie es die herrschende Meinung postuliert, absolut und nicht abwägungsfähig ist, dann wäre ein Schwangerschaftsabbruch unter keinen Umständen zulässig. Nicht einmal bei einer Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der Mutter (medizinische Indikation). Da aber die Rechtslage einen solchen Abbruch bei medizinischer Indikation seit jeher zulässt, müsse hier ein dogmatischer Widerspruch vorliegen.

Ihre Konklusion, die sie als zwingende logische Folge präsentiert, ist atemberaubend: "Die Lösung kann verfassungsrechtlich nur sein, dass entweder die Menschenwürde doch abwägungsfähig ist oder für das ungeborene Leben nicht gilt."

Man muss sich die Tragweite dieser beiden "Lösungsalternativen" auf der Zunge zergehen lassen. Es sind nicht weniger als zwei Vorschläge zur vollständigen atomaren Kernschmelze der bisherigen Verfassungsrechtsprechung zum Lebensschutz.

Alternative 1: Die Abwägbarkeit der Menschenwürde. Die erste Option, die sie in den Raum stellt, ist die Relativierung der Menschenwürde selbst. Der Grundsatz, dass die Würde des Menschen unantastbar (Art. 1 Abs. 1 GG) und damit jeder Abwägung entzogen ist, ist der Angelpunkt, das Fundament, der Schlussstein des gesamten Grundgesetzes. Es ist die Lehre aus den Gräueln des Nationalsozialismus, in dem menschliches Leben zu "lebenswertem" und "lebensunwertem" erklärt und gegeneinander abgewogen wurde. Diese absolute Geltung der Menschenwürde aufzugeben und sie zu einem bloßen Abwägungsgut zu degradieren, das gegen andere Rechtsgüter – seien es die Grundrechte der Schwangeren oder staatliche Interessen – verrechnet werden kann, käme einer Revolution des deutschen Verfassungsrechts gleich. Es würde das Tor öffnen zu einer utilitaristischen Rechtsethik, in der der Wert eines Menschen von äußeren Umständen und Interessenlagen abhängt. Dass eine Kandidatin für das höchste deutsche Gericht einen solchen Dammbruch auch nur als denkbare "Lösung" vorschlägt, ist an sich bereits ein Skandal.

Alternative 2: Die Aberkennung der Menschenwürde des ungeborenen Lebens. Die zweite "Lösung", die Brosius-Gersdorf anbietet, ist nicht weniger radikal. Sollte man die Absolutheit der Menschenwürde nicht antasten wollen, so müsse man eben konstatieren, dass sie "für das ungeborene Leben nicht gilt". Damit würde das ungeborene Kind zu einem Menschen zweiter Klasse degradiert. Es hätte zwar, wie sie gönnerhaft zugesteht, noch ein "Grundrecht auf Leben" (Art. 2 Abs. 2 GG), aber eben nicht mehr den unbedingten Schutz der Würde.

Was bedeutet das konkret? Das Grundrecht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 GG ist, anders als die Würdegarantie, seit jeher abwägungsfähig. In dieses Recht kann durch Gesetz eingegriffen werden. Ein Lebensschutz, der nur auf Art. 2 Abs. 2 GG basiert und nicht mehr in der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG verankert ist, wäre ein Schutz auf Abruf. Er wäre der Abwägung mit den Selbstbestimmungsrechten der Frau, mit sozialen oder gesellschaftlichen Vorstellungen oder schlicht der politischen Willkür des Gesetzgebers preisgegeben. Es wäre genau jene Relativierung des Lebensschutzes, die das Bundesverfassungsgericht in seinen beiden großen Abtreibungsurteilen von 1975 und 1993 mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen hat.

Das Gericht hat stets klargestellt: "Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewußt ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen." (BVerfGE 39, 1). Genau diesen zentralen Satz der deutschen Verfassungsgeschichte will Frauke Brosius-Gersdorf aushebeln.

Ihre anschließende Beruhigungspille, "selbst wenn die Menschenwürde erst für den Mensch ab Geburt gelten sollte, wäre das ungeborene Leben nicht schutzlos", ist eine semantische Täuschung. Natürlich wäre es nicht im juristischen Sinne absolut "schutzlos". Aber es hätte seinen höchsten, seinen unverfügbaren Schutz verloren. Es wäre vom Thron des Absoluten in die Arena des Relativen gestoßen worden. Der Vorwurf, sie würde für einen Schwangerschaftsabbruch bis zur Geburt eintreten, ist in diesem Licht eben keine "Verunglimpfung", sondern die logische Konsequenz ihrer eigenen Prämissen. Wenn das Leben des Ungeborenen nur noch ein abwägungsfähiges Rechtsgut ist, dann obliegt es dem einfachen Gesetzgeber zu entscheiden, bis zu welchem Zeitpunkt der Schwangerschaft die Rechte der Frau überwiegen. Ob dies die 12. Woche, die 24. Woche oder der Tag vor der Geburt ist, wäre dann keine Frage des Verfassungsrechts mehr, sondern eine des politischen Beliebens. Das Ergebnis wäre eine vollständige Fristenlösung nach dem Willen der jeweiligen parlamentarischen Mehrheit. Brosius-Gersdorf bereitet mit ihrer "wissenschaftlichen" Argumentation genau hierfür den dogmatischen Boden.

Ihre Klage, das von ihr "aufgezeigte verfassungsdogmatische Dilemma" werde "verkürzt wiedergegeben", ist der durchsichtige Versuch, die radikale Konsequenz ihres Denkens zu verschleiern. Das Dilemma ist nicht, wie sie behauptet, eines, das im System des Grundgesetzes angelegt wäre. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses vermeintliche Dilemma längst und überzeugend gelöst, indem es die Schutzpflicht des Staates für das ungeborene Leben als eine umfassende, aber in ihren Modalitäten (insbesondere durch die Anerkennung von Indikationen und die Einführung eines Beratungssystems) ausgestaltbare Pflicht interpretiert hat. Das "Dilemma" existiert nur für denjenigen, der die Entscheidung des Gerichts nicht akzeptieren will und einen Weg sucht, den Lebensschutz fundamental zu schwächen.

Frauke Brosius-Gersdorf tritt nicht, wie sie behauptet, für das Grundrecht auf Leben ab Nidation ein. Sie tritt für ein degradiertes, relativiertes Recht ein, das den Namen "Grundrecht" kaum noch verdient. Ihre Positionen sind nicht Ausdruck einer Suche nach "widerspruchsfreien Regelungen", sondern der Versuch, eine radikale rechtspolitische Agenda mit dem Mantel der Wissenschaftlichkeit zu umgeben. Ein liberal-konservatives Verständnis, das dem Schutz des menschlichen Lebens von Anfang bis Ende den höchsten Wert beimisst, kann einer solchen Kandidatin niemals die Zustimmung für das Amt der obersten Hüterin ebenjenes Wertes erteilen.

Teil 4: Die Methodik der Dekonstruktion – Vom Kopftuch bis zur Wahlgleichheit als Symptome einer Geisteshaltung

Die radikale Stoßrichtung der Thesen von Frauke Brosius-Gersdorf beschränkt sich nicht auf die Frage des Lebensschutzes. Auch ihre Ausführungen zu anderen kontroversen Verfassungsthemen, die sie in ihrer Stellungnahme und ihrem Fernsehauftritt als Beispiele für eine angebliche "Verkürzung" und "Falschdarstellung" ihrer Positionen anführt, folgen einem wiederkehrenden Muster. Es ist die Methodik einer konsequenten Dekonstruktion. Etablierte Verfassungsprinzipien, austarierte Rechtsprechungslinien und gewachsene staatsrechtliche Dogmen werden als "Widersprüche", "Inkonsistenzen" oder "umstrittene Fragen" dargestellt, um sie anschließend im Sinne einer progressiven Agenda neu zu justieren. Die Beispiele des religiösen Kopftuchs für Rechtsreferendarinnen und der Paritätsgesetze für den Bundestag sind hierfür symptomatisch. Sie offenbaren dieselbe Geisteshaltung, die auch ihren Ansatz zum Lebensschutz prägt: eine grundlegende Unzufriedenheit mit dem bestehenden Verfassungsgefüge und der Wille, dieses im Namen einer vermeintlich höheren Gerechtigkeit umzubauen.

Das Neutralitätsgebot des Staates: Vom Schutzprinzip zum Problemfall

In ihrer Stellungnahme beklagt Brosius-Gersdorf, ihre Position zum Kopftuch von Rechtsreferendarinnen werde unzutreffend wiedergegeben. Sie habe lediglich auf einen "Widerspruch" in der Rechtsprechung hingewiesen. Dieser bestehe darin, dass ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen an staatlichen Schulen als verfassungsrechtlich unzulässig gelte, während es für Rechtsreferendarinnen in bestimmten Situationen im Gerichtssaal zulässig sein soll. Ihre Argumentation kulminiert in dem Satz: "Der Staat identifiziert sich nicht mit der Grundrechtsausübung seiner Bediensteten."

Diese auf den ersten Blick technisch-juridisch daherkommende Argumentation ist bei näherer Betrachtung ein weiterer Versuch, ein zentrales Verfassungsprinzip zu relativieren: das Gebot der staatlichen Neutralität. Sie stellt die Situation so dar, als sei der Widerspruch das Problem, das es durch eine einheitliche Linie – also die Zulassung des Kopftuchs auch im Gerichtssaal – aufzulösen gelte. Doch sie verkennt oder ignoriert bewusst den Grund für die unterschiedliche Behandlung.

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat sehr wohl differenziert zwischen dem allgemeinen schulischen Umfeld und der spezifischen Situation im Gerichtssaal oder bei anderen hoheitlichen Akten, die die Staatsgewalt in ihrer Kernfunktion repräsentieren. Während der Pluralismus in der Schule Raum für die Sichtbarkeit unterschiedlicher religiöser Bekenntnisse der Lehrkräfte lässt (solange der Schulfrieden nicht konkret gefährdet ist), verkörpert eine Rechtsreferendarin auf der Richterbank, an der Seite des Staatsanwalts oder bei einer Beweisaufnahme die eine, unteilbare und weltanschaulich neutrale Justiz des Staates. Hier geht es nicht nur um die persönliche Grundrechtsausübung der Beamtin, sondern um das Vertrauen der Bürger in die unbedingte Unparteilichkeit des Staates. Der Bürger muss darauf vertrauen können, dass ihm der Staat als solcher gegenübertritt und nicht ein Staat, der sich durch seine Repräsentanten sichtbar mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung gemein macht.

Brosius-Gersdorfs These, der Staat "identifiziere" sich nicht mit der Grundrechtsausübung seiner Bediensteten, ist eine problematische Verkürzung. In dem Moment, in dem eine Person in einer Funktion auftritt, die die Staatsgewalt unmittelbar repräsentiert – und die Justiz ist der Kernbereich dieser Gewalt –, tritt ihre persönliche Religionsausübung zwangsläufig in ein Spannungsverhältnis zur Neutralitätspflicht des Amtes. Dieses Spannungsverhältnis einfach aufzulösen, indem man das Neutralitätsgebot für nachrangig erklärt, bedeutet, das Wesen staatlicher Gewalt im säkularen Rechtsstaat neu zu definieren.

Ihr Verweis, ein Verbot könne im Einzelfall ja noch durch das "Mäßigungsgebot für Staatsbedienstete" legitimiert sein, ist ein schwacher Trost. Er verlagert die Entscheidung von einer klaren, prinzipienfesten Regel hin zu einer vagen Einzelfallabwägung und öffnet damit der Beliebigkeit Tür und Tor. Wieder zeigt sich dieselbe Methode: Ein klares Prinzip (staatliche Neutralität) wird als "Widerspruch" problematisiert, um es anschließend durch eine flexible, abwägungsoffene Lösung zu ersetzen, die im Ergebnis die Position stärkt, die das Prinzip ursprünglich in Frage stellte. Aus liberal-konservativer Sicht ist die sichtbare Neutralität des Staates in seinen Kernfunktionen jedoch kein Widerspruch, der aufgelöst, sondern ein hohes Gut, das verteidigt werden muss.

Die Gleichheit der Wahl: Die Aushöhlung eines Grundprinzips im Namen der Gleichstellung

Ein noch drastischeres Beispiel für diese dekonstruktivistische Methode findet sich in ihren Ausführungen zur Parität in den Parlamenten. Sie wehrt sich gegen den Vorwurf, sie wolle Wahlgrundsätze wie die Wahlgleichheit aushebeln. Ihre Verteidigung: Sie habe sich "rechtswissenschaftlich mit der Frage auseinandergesetzt, ob das im Grundgesetz verankerte Gebot der Förderung der tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern (Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG) Eingriffe in die Wahlgrundsätze rechtfertigt." Sie fügt hinzu, diese Frage sei "in der Rechtswissenschaft umstritten und höchstrichterlich nicht geklärt."

Diese Darstellung ist erneut eine strategische Verharmlosung. Die Wahlgrundsätze des Artikels 38 GG – allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim – sind das Herzstück der repräsentativen Demokratie. Insbesondere die Gleichheit der Wahl, also das gleiche Stimmgewicht und die gleiche Zählwertgleichheit jeder Stimme, ist fundamental. Ein Paritätsgesetz, das vorschreibt, dass Wahllisten zwingend abwechselnd mit Männern und Frauen besetzt werden müssen, greift massiv in diese Grundsätze ein. Es greift in die Freiheit der Parteien bei der Kandidatenaufstellung ein und, noch wichtiger, es hebelt die Gleichheit der Wahl aus. Die Chance eines Kandidaten, gewählt zu werden, hinge nicht mehr allein von den für ihn abgegebenen Stimmen ab, sondern von seinem Geschlecht und seiner Position auf einer quotierten Liste.

Die Behauptung, diese Frage sei "höchstrichterlich nicht geklärt", ist zwar formal korrekt, aber irreführend. Mehrere Landesverfassungsgerichte, etwa in Thüringen und Brandenburg, haben Paritätsgesetze mit überwältigend klaren Argumenten als verfassungswidrig verworfen, eben weil sie mit den Wahlgrundsätzen unvereinbar sind. Die Frage als "offen" zu bezeichnen und die Möglichkeit eines Eingriffs in die Wahlgleichheit durch das Gleichstellungsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG als ernsthafte Option darzustellen, ist bereits eine massive rechtspolitische Positionierung.

Das Staatsziel der Gleichberechtigungsförderung ist unbestritten ein wichtiger Verfassungsauftrag. Es rechtfertigt jedoch keinen Eingriff in die formale Struktur der Demokratie selbst. Die Gleichheit der Wahl ist ein formales, kein materielles Prinzip. Sie soll gerade sicherstellen, dass das Ergebnis einer Wahl allein vom Willen der Wähler abhängt und nicht durch staatliche Vorgaben über die "richtige" Zusammensetzung des Parlaments inhaltlich vorgeformt wird. Die Vorstellung, man könne die formalen Grundlagen der Demokratie opfern, um ein bestimmtes materielles Ergebnis (mehr Frauen im Parlament) zu erzielen, ist ein Denken, das den Zweck über die Mittel stellt und die Integrität des demokratischen Prozesses untergräbt.

Auch hier wird die Methode deutlich: Ein unantastbar geglaubtes Verfassungsprinzip (Wahlgleichheit) wird mit einem anderen Verfassungsauftrag (Gleichstellung) in einen künstlichen Konflikt gebracht. Die Frage wird als "umstritten" und "offen" deklariert, um den Boden für eine "Lösung" zu bereiten, die das vormals unantastbare Prinzip durchbricht. Für eine liberal-konservative Position, die die formalen Garantien der Demokratie als unverzichtbaren Schutz vor ideologischer Überformung begreift, ist eine solche Relativierung der Wahlrechtsgrundsätze inakzeptabel.

Teil 5: Eine Gefahr für die Statik der Verfassung

Der Fall Frauke Brosius-Gersdorf ist weit mehr als eine missglückte Personalie. Er ist ein Weckruf. Er zeigt, wie weit sich Teile der juristischen akademischen Elite von den grundlegenden Konsensen der deutschen Verfassungsordnung entfernt haben. Die hier offenbarte Geisteshaltung ist nicht die einer Bewahrerin und sorgsamen Fortentwicklerin des Rechts, sondern die einer Architektin des Umbaus.

Ihr Auftreten war der einer verletzten Aktivistin, nicht der einer souveränen Richterin. Ihr Verständnis der Richterwahl ist ein Angriff auf die demokratische Legitimation des Gerichts. Und ihre inhaltlichen Positionen sind ein Frontalangriff auf die tragenden Säulen der Verfassungsrechtsprechung: den absoluten Schutz der Menschenwürde und des ungeborenen Lebens, die Neutralität des Staates und die Unverbrüchlichkeit der demokratischen Wahlgrundsätze.

Die Taktik, diese radikalen Thesen als bloße "wissenschaftliche Dilemmata" oder "offene Fragen" zu tarnen, ist durchschaubar und intellektuell unredlich. Es ist der Versuch, eine Revolution im Denken als bloße akademische Übung zu verkaufen. Die Aufgabe eines Verfassungsrichters ist es jedoch nicht, die Statik des Verfassungsgebäudes mit hypothetischen Gedankenspielen zu testen, bis es einstürzt. Seine Aufgabe ist es, auf dem Fundament zu stehen, das die Verfassungsväter errichtet und das Gericht über 70 Jahre gefestigt hat, und von diesem sicheren Standpunkt aus Recht zu sprechen.

Dass die Union und andere politische Kräfte dieser Kandidatin die Zustimmung verweigert haben, war keine unzulässige Politisierung. Es war ein Akt staatsmännischer Verantwortung und Notwehr im Namen des Grundgesetzes. Der öffentliche Versuch von Frauke Brosius-Gersdorf, diese Entscheidung zu revidieren, hat die Richtigkeit dieser Verweigerung auf dramatische Weise unterstrichen. Sie hat selbst den letzten Beweis für ihre Nichteignung erbracht. Es bleibt zu hoffen, dass die beteiligten politischen Akteure die Lektion gelernt haben und bei zukünftigen Nominierungen nicht nur auf formale Exzellenz, sondern vor allem auf charakterliche Integrität und ein unerschütterliches Bekenntnis zum bewährten Fundament unserer Verfassung achten. Denn dieses Fundament ist zu kostbar, um es den "Dilemmata" von Dekonstruktivisten auszusetzen.

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Open source thrives on collaboration. Users report bugs, developers investigate, and together, the software ecosystem improves. However, the interactions are not always trouble free. Central to this ecosystem are Codes of Conduct (CoCs), designed to ensure respectful interactions and provide a mechanism for addressing behavior that undermines collaboration. These CoCs and their enforcement are often a hotly disputed topic. Rightfully so! What happens when the CoC process itself appears to fail, seemingly protecting established contributors while penalizing those who report issues? As both a law professional with a rich experience in academia and practice as a legal expert who also contributes to various open source software projects over the past couple of years, I deeply care about what the open source community can learn from the law and its professional interpreters. This story hopefully ignites the urge to come up with better procedures that improve the quality of conflict res...

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My personal journey to unlock more performance on Linux - Part 1: Introduction This is the start of a new series dedicated to the Linux Gaming community. This is a bit of an oddball in my blog as most of my other blog posts are written for a German audience and cover my other two passions: politics and the law. Nonetheless, PC gaming is a hobby for me since I was six years old, playing games on a Schneider 386 SX. Wow, times ran fast. As I've learned quite a lot about Linux during the last couple of years, switching between several distributions, learning about compilers and optimizing parts of a Linux distribution for a greater gaming experience, I was asked recently on the Phoronix Forums to share some of my findings publicly, and I am very glad to do so with a global audience. But keep in mind, I am neither a software nor a hardware engineer - I am a law professional who is passionate about computers. I digged deep into the documentation and compiled a lot of code, breaking my s...

Amtsschimmel - Folge 4 (Fortsetzung 3) - Die Generalstaatsanwaltschaft steckt den Kopf in den Sand

Wenn es um das Sühnen staatlichen Unrechts geht, ist in der Regel auf eines Verlass: Auf eine groteske Verweigerungshaltung anderer staatlicher Stellen dies anzuerkennen und in der Folge auch zu ahnden. Wer den Ausgangsfall verpasst hat, sollte unbedingt sich zuvor den Beitrag hier noch einmal anschauen. Widmen wir uns heute dem Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft Rostock vom 10. Januar 2024 (Az.: 2 Zs 724/23), der inhaltlich bedauerlicherweise wieder einer Arbeitsverweigerung gleich kommt. Immerhin stellt man sich dabei leicht intelligenter an als  noch die Staatsanwaltschaft Schwerin , wenn auch im Ergebnis ohne Substanz: Lieber Kollege Henkelmann , haben Sie wirklich über die Jahre alles vergessen, was Sie einmal im Staatsrecht gehört haben sollten? So grundlegende Dinge, wie die Bindung aller staatlicher Gewalt an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) oder das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG)?! Fühlen Sie sich auch noch gut dabei, wenn Sie tatkräftig dabei mithelfen, da...