Die Verheißung des Rechtsstaates ist ein Eckpfeiler unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Er verspricht uns Schutz vor Willkür, Gleichheit vor dem Gesetz und die Wahrung unserer Grundrechte. In Sonntagsreden und staatstragenden Dokumenten wird dieses Ideal beschworen. Doch was geschieht, wenn die Realität hinter diesem Anspruch zurückbleibt? Wenn der Staat, der Hüter des Rechts, selbst zum Rechtsbrecher wird? Dann erleben wir eine schleichende, aber umso gefährlichere Erosion der staatlichen Legitimität – und zwar durch jene Institutionen, die eigentlich das Recht verkörpern und durchsetzen sollten.
Diese Erosion manifestiert sich nicht in spektakulären Einzelereignissen, sondern in einer Vielzahl von alltäglichen Vorgängen, die in ihrer Summe ein besorgniserregendes Bild zeichnen. Es ist eine schleichende Entwicklung, die das Vertrauen der Bürger in die staatliche Ordnung untergräbt und die Frage aufwirft, ob der Rechtsstaat, wie wir ihn kennen, noch den Anforderungen der Zeit gewachsen ist.
Betrachten wir zunächst das grundlegende Recht auf informationelle Selbstbestimmung, wie es in der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) verankert ist. Artikel 15 DSGVO gewährt jedem Bürger das Recht, Auskunft über die zu seiner Person gespeicherten Daten zu verlangen. Ein Recht, das so klar und unmissverständlich formuliert ist, dass es keiner weiteren Interpretation bedarf. Und der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat diesem Recht in wegweisenden Entscheidungen, insbesondere im Urteil "Österreichische Post", Nachdruck verliehen. Er hat klargestellt, dass Verstöße gegen dieses Recht Schadensersatzansprüche nach sich ziehen können, und er hat die Versuche einiger nationaler Gerichte, diese Rechte durch überzogene Anforderungen an die Darlegung immaterieller Schäden zu untergraben, zurückgewiesen. Der EuGH hat betont, dass selbst geringfügige Verletzungen des Datenschutzrechts schutzwürdig sind und dass die Hürden für den Nachweis eines Schadens nicht unerreichbar hoch sein dürfen, da ansonsten die Effektivität des Datenschutzrechtes und damit ein wesentliches Element des Grundrechtsschutzes in Frage gestellt wäre.
Doch was erleben Bürger, die von diesem Recht Gebrauch machen? Allzu oft stoßen sie auf eine Mauer des Schweigens, auf bürokratische Hinhaltetaktiken, auf Antworten, die in ihrer Substanzlosigkeit kaum das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt wurden. Vollständige Auskünfte? Fehlanzeige. Und dass sogar vom Bundesverfassungsgericht. Einhaltung der gesetzlichen Fristen? Oftmals ein unerfüllter Wunsch. Die Behörden, die eigentlich Vorbild in Sachen Rechtsbefolgung sein sollten, scheinen sich in vielen Fällen hinter einem Schutzwall der Untätigkeit und Intransparenz zu verschanzen.
Ist dies noch Ausdruck eines funktionierenden Rechtsstaats? Oder erleben wir hier eine schleichende Aushöhlung des Rechtsstaatsprinzips durch eine Verwaltungspraxis, die sich über den Bürger erhebt, ihn zum Bittsteller degradiert und seine Rechte missachtet? Diese Frage drängt sich auf, wenn man die Diskrepanz zwischen dem rechtlichen Anspruch und der erlebten Wirklichkeit betrachtet.
Doch die Missachtung von Bürgerrechten beschränkt sich nicht auf den Datenschutz. Sie zeigt sich in vielen Bereichen des staatlichen Handelns, insbesondere auf der kommunalen Ebene, wo Entscheidungen getroffen werden, die nicht nur Fragen nach der Rechtsstaatlichkeit, sondern auch nach dem gesunden Menschenverstand aufwerfen.
Oberhausen: Hier werden Laternen mitten auf Gehwegen errichtet, offenbar ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Fußgänger und ohne erkennbare Notwendigkeit. Ein Beispiel für mangelnde Sorgfalt bei der Planung und eine Verschwendung von Steuergeldern, die den Bürger zu Recht verärgert.
Schwerin: Ein Oberbürgermeister, der sich, so scheint es, über geltende Umweltvorschriften hinwegsetzt, indem er unerlaubt Paletten verbrennt. Und eine Verwaltung, die zwar ein Ordnungswidrigkeitenverfahren prüft, deren Ergebnisse aber im Dunkeln bleiben. Ein Vorgang, der den Verdacht der Intransparenz und der Begünstigung nährt. Die lokale Presse hat diesen Fall aufgegriffen und die Diskrepanz zwischen den Verlautbarungen des Oberbürgermeisters und den geltenden Rechtsvorschriften aufgezeigt. Ein Beispiel dafür, wie politische Amtsträger bisweilen dazu neigen, sich über Recht und Gesetz zu erheben.
Lübeck: Hier werden hunderte Granitpoller in einem Nobelviertel aufgestellt, die das Stadtbild verschandeln und den Charakter des Viertels negativ verändern. Erst nach massivem Protest der Bürger wird ein Teil dieser Poller wieder entfernt. Ein Beispiel für mangelnde Bürgerbeteiligung, fehlende Sensibilität für städtebauliche Belange und eine Verschwendung von Steuergeldern, die durch eine sorgfältigere Planung und eine frühzeitige Einbindung der Bürger hätte vermieden werden können.
Berlin-Charlottenburg: Eine Straßenumgestaltung, die dazu führt, dass die Feuerwehr keinen Zugang mehr zu den oberen Stockwerken der Häuser hat und den Anwohnern mit Nutzungsverboten gedroht wird. Eine jahrelange Hängepartie, die die Sicherheit der Bürger gefährdet und die Unfähigkeit der Verwaltung offenbart, grundlegende Sicherheitsanforderungen zu gewährleisten. Ein Beispiel für mangelnde Voraussicht, fehlende Koordination zwischen verschiedenen Behörden und eine Geringschätzung der elementaren Bedürfnisse der Bürger.
Diese kommunalen Missstände sind allerdings keine isolierten Ausrutscher aus der Provinz, sondern vielmehr alarmierende Symptome eines tiefer liegenden Systemversagens – und zwar keineswegs begrenzt auf die kommunale Ebene oder die Exekutive. Sie offenbaren eine bedenkliche Tendenz: Bürgerrechte werden missachtet und die Handelnden des Staates erheben sich selbst über Recht und Gesetz.
Es geht hier nicht um individuelles Fehlverhalten einzelner Amtsträger, sondern um strukturelle Defizite, um eine schleichende Erosion des Rechtsstaatsprinzips. Es geht um eine Verwaltungskultur, in der Verantwortungsbewusstsein, Bürgernähe und die Achtung des Rechts nicht immer den Stellenwert haben, den sie in einem funktionierenden Rechtsstaat haben sollten.
Der Staat, meine Damen und Herren, ist kein Selbstzweck. Er ist kein Instrument zur Durchsetzung von Partikularinteressen oder zur Befriedigung von Allmachtsfantasien einiger Politiker. Er ist ein Dienstleister, verpflichtet dem Gemeinwohl und dem Schutz der Grundrechte seiner Bürger. Seine Legitimation, seine Daseinsberechtigung, speist sich aus der strikten Einhaltung von Recht und Gesetz und der Wahrung der Rechte und Freiheiten seiner Bürger.
Wenn Behörden jedoch systematisch gegen Gesetze verstoßen, wenn sie Bürgerrechte mit Füßen treten, wenn sie sich über das Recht stellen, dann untergraben sie das Fundament des Rechtsstaats. Sie zerstören das Vertrauen der Bürger in die staatliche Ordnung, sie fördern Politikverdrossenheit, sie treiben die Menschen in die Arme jener, die einfache Lösungen versprechen und die Komplexität der rechtsstaatlichen Ordnung verachten.
Kurzum: Sie gefährden die Stabilität unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung und setzen die Errungenschaften des Rechtsstaats aufs Spiel.
Diese Entwicklung dürfen wir nicht tatenlos hinnehmen. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Rechtsstaat von innen ausgehöhlt wird. Wir müssen die Behörden an ihre Pflichten erinnern, wir müssen Rechtsverstöße konsequent ahnden, und zwar unabhängig davon, wer sie begeht. Wir müssen eine Kultur der Rechtsstaatlichkeit fördern, in der Gesetz und Recht nicht nur auf dem Papier stehen, sondern gelebte Praxis sind.
Es ist an der Zeit, den Rechtsstaat zu verteidigen – nicht gegen äußere Feinde, sondern gegen die schleichende Erosion von innen. Es ist an der Zeit, den Staat daran zu erinnern, dass er für die Bürger da ist, und nicht umgekehrt. Es ist an der Zeit, die Missstände klar zu benennen, Verantwortlichkeiten einzufordern und auf eine grundlegende Reform der Verwaltungspraxis zu drängen.
Ich appelliere daher an Sie: Seien Sie wachsam! Informieren Sie sich! Bringen Sie sich ein! Machen Sie die Handelnden auf ihre Fehler aufmerksam und reden Sie darüber! Wählen Sie Politiker, die mit Augenmaß und gesundem Urteilsvermögen sich für die Ihnen wichtige Belange einsetzen. Denn es geht um die Zukunft unseres Rechtsstaates, um die Zukunft unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Es geht um die Frage, ob wir in einem Staat leben wollen, in dem Recht und Gesetz geachtet und die Rechte der Bürger gewahrt werden, oder ob wir uns mit einer schleichenden Erosion des Staates abfinden wollen. Die Entscheidung liegt bei uns allen.