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Die Wehrhaftigkeit des Rechtsstaates im Ausbildungsmonopol: Eine kritische Analyse des Urteils des Thüringer Verfassungsgerichtshofs zur Verfassungstreue im Referendariat

I. Einleitung: Der Rechtsstaat in der Defensive

Die Entscheidung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs vom 26. November 2025 (VerfGH 9/25) markiert eine Zäsur in der deutschen Staatsrechtsdiskussion, die weit über die Landesgrenzen des Freistaats hinausreicht. In einer Zeit, in der die Polarisierung der Gesellschaft zunehmend die Institutionen der dritten Gewalt erreicht, sah sich das Gericht mit einer fundamentalen Frage konfrontiert: Wie viel Verfassungsfeindschaft muss der Staat bei jenen dulden, die er selbst zwangsweise ausbildet, um ihnen den Zugang zu den juristischen Kernberufen zu ermöglichen?

Das Urteil, welches den § 8 Abs. 1 Nr. 3 des Thüringer Juristenausbildungsgesetzes (ThürJAG) für verfassungsgemäß erklärte, ist ein juristisches Dokument der Selbstbehauptung. Es ist der Versuch, die liberale Offenheit des Berufszugangs mit der Notwendigkeit einer „wehrhaften Demokratie“ in Einklang zu bringen. Dabei wandelt der Gerichtshof auf einem schmalen Grat. Er muss einerseits das staatliche Ausbildungsmonopol für Juristen rechtfertigen, aus dem eine gesteigerte Verantwortung für die Chancengleichheit erwächst, und andererseits das „überragende Rechtsgut“ der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege schützen. Dass der Gerichtshof hierbei zu einem anderen Ergebnis kommt als der benachbarte Sächsische Verfassungsgerichtshof wenige Jahre zuvor, verdeutlicht die Brisanz und die dogmatische Unschärfe, die diesem Themenkomplex noch immer innewohnt. Im Folgenden soll die Entscheidung dogmatisch seziert, in den konstitutionellen Kontext eingeordnet und insbesondere im Kontrast zur sächsischen Judikatur gewürdigt werden.

II. Der föderale Kompetenzstreit: Eine Frage der Lücke

Bevor sich das Gericht den materiell-rechtlichen Kernfragen der Grundrechte widmen konnte, musste es eine klassische, aber keineswegs triviale Hürde des Bundesstaatsprinzips nehmen: die Gesetzgebungskompetenz. Die Antragstellerin hatte gerügt, dass dem Landesgesetzgeber die Befugnis fehle, Zugangsbarrieren zum juristischen Vorbereitungsdienst zu errichten, da der Bund durch die Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) und das Deutsche Richtergesetz (DRiG) das Feld bereits abschließend bestellt habe.

Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hat diesen Einwand mit einer lehrbuchmäßigen Exegese der Artikel 70, 72 und 74 des Grundgesetzes zurückgewiesen. Die Argumentation überzeugt durch ihre Präzision: Zwar hat der Bund von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz für das Recht der Rechtsanwaltschaft und die Statusrechte der Beamten Gebrauch gemacht. Doch lässt § 5b DRiG, der die Grundstrukturen der juristischen Ausbildung regelt, bewusst Raum für landesrechtliche Ausgestaltungen. Das Gericht stellt zutreffend fest, dass die Regelung des Zugangs zum Vorbereitungsdienst (Referendariat) und die Regelung des Zugangs zur Rechtsanwaltschaft (Zulassung zur Kammer) zwei unterschiedliche Lebenssachverhalte betreffen.

Diese Trennung ist dogmatisch zwingend. Würde man der Argumentation folgen, dass die bundesrechtliche Regelung der Anwaltschaft jegliche landesrechtliche Härte im Ausbildungsrecht sperrt, so würde man den Ländern ihre Kulturhoheit und ihre Organisationsgewalt über die Justizausbildung faktisch entziehen. Das Urteil betont hier zu Recht, dass das ThürJAG keine berufsständische Regelung für Anwälte ist, sondern eine Ausbildungsregelung. Dass diese Ausbildung faktisch die Voraussetzung für den Anwaltsberuf ist, führt zwar zu einer materiellen Verzahnung, hebt aber die formelle Kompetenzverteilung nicht auf. Der Thüringer Gesetzgeber durfte also handeln; die Frage war lediglich, ob er die materiellen Grenzen des Grundgesetzes gewahrt hat.

III. Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Spannungsfeld des Ausbildungsmonopols

Im Zentrum der materiellen Prüfung stand Artikel 35 der Thüringer Verfassung, der in seinem Schutzgehalt im Wesentlichen dem Artikel 12 des Grundgesetzes entspricht. Die juristische Ausbildung in Deutschland ist durch ein staatliches Monopol geprägt: Wer Anwalt, Richter oder Notar werden will, muss das Zweite Staatsexamen ablegen. Der Staat hält den Schlüssel zu diesen Berufen in der Hand. Daraus leitet das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung ab, dass die Hürden für den Zugang zum Vorbereitungsdienst so niedrig wie möglich sein müssen.

Der Thüringer Verfassungsgerichtshof qualifiziert die angegriffene Norm – den Ausschluss bei „Tätigsein gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ – als eine subjektive Zulassungsvoraussetzung. Ein solcher Eingriff in die Berufsfreiheit ist nur statthaft, wenn er dem Schutz eines überragend wichtigen Gemeinschaftsgutes dient und verhältnismäßig ist.

Hier vollzieht das Gericht eine bemerkenswerte Wertung. Es erhebt die „Funktionsfähigkeit der Rechtspflege“ und insbesondere das „Vertrauen der Bevölkerung in die Integrität der Justiz“ in den Rang eines solchen überragenden Gutes. Diese Argumentationsfigur ist in der jüngeren Rechtsprechung zwar etabliert, wird hier jedoch mit besonderer Schärfe angewandt. Das Gericht argumentiert, dass der Rechtsstaat Schaden nimmt, nicht erst wenn ein Referendar ein Fehlurteil fällt, sondern bereits dann, wenn der Eindruck entsteht, der Staat bilde seine eigenen Feinde an den Hebeln der Macht aus.

Kritisch anzumerken ist hierbei, dass der Begriff des „Vertrauens der Bevölkerung“ eine flüchtige Kategorie ist. Er eignet sich hervorragend, um Eingriffe zu legitimieren, die empirisch schwer messbar sind. Das Gericht umschifft dieses Problem, indem es normativ argumentiert: Der Bürger hat einen Anspruch darauf, in einem Rechtsstreit nicht einem Repräsentanten des Staates gegenüberzustehen, der die Grundlagen dieses Staates aktiv bekämpft. Diese Perspektive wechselt den Fokus vom individuellen Freiheitsrecht des Bewerbers hin zum institutionellen Schutzanspruch des Rechtsuchenden. Es ist eine institutionenzentrierte Lesart der Grundrechte, die hier zum Tragen kommt.

IV. Die Definition des „Tätigseins“: Dogmatischer Rettungsanker oder unbestimmter Rechtsbegriff?

Die wohl sensibelste Stelle des Urteils ist die Auseinandersetzung mit dem Tatbestandsmerkmal des „Tätigseins gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“. Hier musste das Gericht sicherstellen, dass die Regelung nicht zu einer unzulässigen Gesinnungsprüfung mutiert, wie sie der Radikalenerlass der 1970er Jahre in seiner exzessiven Anwendung teilweise darstellte.

Der Gerichtshof wählt den Weg der strikten Trennung von „Gesinnung“ und „Tat“. Er führt aus, dass das bloße „Haben“ einer politischen Überzeugung, und sei sie noch so radikal, niemals Grund für einen Ausschluss sein darf. Das „Tätigsein“ erfordere vielmehr ein nach außen tretendes, aggressiv-kämpferisches Verhalten. Damit lehnt sich der Thüringer Verfassungsgerichtshof eng an die Terminologie des Bundesverfassungsgerichts zum Parteienverbot (Art. 21 Abs. 2 GG) und zur Verwirkung von Grundrechten (Art. 18 GG) an.

Diese Eingrenzung ist rechtsstaatlich geboten, doch sie birgt in der Praxis erhebliche Abgrenzungsprobleme. Wo endet die zulässige, wenn auch radikale Meinungsäußerung, und wo beginnt das „Tätigsein gegen“ die Verfassung? Das Urteil bleibt hier notwendigerweise abstrakt. Es verlangt ein „zurechenbares Ereignis“. Doch ist die Teilnahme an einer Demonstration, auf der verfassungsfeindliche Parolen gerufen werden, bereits ein solches Tätigsein? Ist das Teilen von Inhalten in sozialen Medien, die die Legitimität des Staates untergraben, ausreichend? Das Gericht deutet an, dass es um ein Verhalten „von einigem Gewicht“ gehen muss. In der Regel soll die bloße Zugehörigkeit zu einer Partei nicht genügen. Ferner habe die Formulierung „Tätigsein“ eine zeitliche Dimension. Handlungen, die lange zurückliegen und sich nicht mehr in einem aktuellen Verhalten fortsetzen, sind deshalb nicht erfasst. Zudem ist die Feststellung eines individuellen Verhaltens des Bewerbers unter Berücksichtigung des zeitlichen Zusammenhangs zum beabsichtigten Vorbereitungsdienst erforderlich.

Durch diese Auslegung versucht das Gericht, das Parteienprivileg des Artikels 21 Abs. 2 GG zu wahren. Die bloße Mitgliedschaft in einer nicht verbotenen Partei darf formell nicht zum Ausschluss führen. Indem das Gericht aber auf das „Tätigsein“ abstellt, eröffnet es den Behörden die Möglichkeit, Funktionäre und besonders aktive Mitglieder extremistischer Parteien dennoch auszuschließen – nicht wegen der Mitgliedschaft an sich, sondern wegen der Handlungen, die mit der Ausübung der Parteifunktion verbunden sind. Dies ist ein juristischer Kunstgriff, der das Parteienprivileg zwar formell unangetastet lässt, es aber in seiner Schutzwirkung für Exponierte deutlich relativiert. Die Behörde hat dem Bewerber konkretes und aktuelles extremistisches Handeln "von einigem Gewicht" nachzuweisen, um dessen Ausschluss zu rechtfertigen.

V. Die Differenzierung zur Treuepflicht der Beamten

Ein wesentlicher Aspekt der Entscheidung ist die Abstufung der Loyalitätspflichten. Das Gericht bestätigt, dass an Referendare im öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnis geringere Anforderungen zu stellen sind als an Beamte im Lebenszeitverhältnis oder Beamte auf Widerruf. Während von Beamten eine „positive Treuepflicht“ erwartet wird – also das jederzeitige Eintreten für die FDGO –, genügt bei Referendaren nach Auffassung des Gerichts eine „negative Loyalitätspflicht“.

Das bedeutet: Der Referendar muss sich nicht zum Staat bekennen, er darf ihn nur nicht aktiv bekämpfen. Diese Unterscheidung ist fundamental. Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass der Vorbereitungsdienst eine Ausbildungsphase ist und das Ausbildungsmonopol den Staat zur Zurückhaltung zwingt. Die Konstruktion einer „negativen Unterlassungspflicht“ als Mindeststandard ist dogmatisch überzeugend. Sie verhindert, dass der Staat vom Bürger Liebe zur Verfassung verlangt, erlaubt ihm aber, den offenen Kampf gegen sie im eigenen Haus zu unterbinden. Es ist das Minimum dessen, was ein wehrhafter Staat fordern muss, um sich nicht selbst aufzugeben.

VI. Der Dissens: Thüringen contra Sachsen

Besondere Aufmerksamkeit verdient die explizite Auseinandersetzung und Abgrenzung gegenüber der Rechtsprechung des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs. Dieser hatte in seinem Beschluss vom 21. Oktober 2022 (Vf. 95-IV-21 HS) eine vergleichbare sächsische Regelung für unvereinbar mit der sächsischen Verfassung erklärt. Der Thüringer Verfassungsgerichtshof widerspricht den sächsischen Kollegen in diesem Punkt deutlich und mit einer Härte, die unter Verfassungsgerichten selten ist.

Der Unterschied in der Bewertung lässt sich auf zwei wesentliche Punkte zurückführen:

Erstens bewertete das sächsische Gericht die Sperrwirkung des Bundesrechts (BRAO) strenger und sah in den Regelungen zur Anwaltschaft eine engere Fessel für den Landesgesetzgeber. Der Thüringer Gerichtshof hingegen betont die Eigenständigkeit des Ausbildungsrechts.

Zweitens, und das ist der entscheidende materielle Unterschied, gewichten beide Gerichte die Verhältnismäßigkeit anders. Der Sächsische Verfassungsgerichtshof nahm an, dass ein Ausschluss vom Vorbereitungsdienst nur dann verhältnismäßig sei, wenn die Schwelle zur Strafbarkeit überschritten ist. Solange ein Bewerber keine Straftaten begangen habe, müsse der Staat ihn ausbilden, da ihm sonst der Berufszugang faktisch unmöglich gemacht werde. Die "Gefahr" für den Rechtsstaat sei durch die engmaschige Aufsicht über Referendare beherrschbar.

Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hält diese Sichtweise für unzureichend. Er argumentiert, dass die Strafbarkeitsschwelle zu spät greift. Ein „Tätigsein gegen die Verfassung“ könne auch unterhalb der Strafbarkeitsschwelle das Vertrauen in die Justiz massiv beschädigen. Zudem verwirft das Thüringer Gericht das Argument der Beaufsichtigung. Ein Referendar sei nicht nur ein Zuarbeiter, sondern übe – etwa in der Sitzungsvertretung für die Staatsanwaltschaft oder bei der Beweisaufnahme – hoheitliche Funktionen aus, die vom Bürger als staatliches Handeln wahrgenommen werden. Selbst wenn man ihn von diesen Aufgaben entbinde (was in Thüringen als milderes Mittel diskutiert, aber verworfen wurde), verbleibe der Zugang zu sensiblen Akten und internen Beratungen.

Diese Divergenz zwischen Weimar und Leipzig offenbart ein unterschiedliches Verständnis von der Wehrhaftigkeit der Demokratie. Während Sachsen den Schwerpunkt auf die individuelle Freiheit und die Resozialisierungsmöglichkeit (bzw. die Möglichkeit der Bewährung im Dienst) legte, priorisiert Thüringen den institutionellen Selbstschutz. Der Thüringer Senat wirft dem sächsischen Beschluss implizit vor, die Symbolkraft und die reale Gefahr, die von Verfassungsfeinden im Staatsdienst ausgeht, zu unterschätzen. Es ist eine Entscheidung für einen präventiven Verfassungsschutz im öffentlichen Dienstrecht.

VII. Verhältnismäßigkeit und die Frage der milderen Mittel

Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung musste sich das Gericht mit der Frage auseinandersetzen, ob nicht mildere Mittel als der totale Ausschluss zur Verfügung stünden. Diskutiert wurde insbesondere die Möglichkeit, verfassungsfeindliche Referendare zwar zuzulassen, sie aber von hoheitlichen Aufgaben wie der Sitzungsleitung oder der staatsanwaltlichen Vertretung fernzuhalten.

Der Thühringer Verfassungsgerichtshof verwirft diesen Ansatz mit bemerkenswerter Deutlichkeit. Ein solcher „Referendar zweiter Klasse“ ließe sich organisatorisch kaum abbilden, ohne das Ausbildungsziel zu gefährden. Wer nicht plädieren darf, wer keine Zeugen vernehmen darf, der erhält keine vollständige Ausbildung. Zudem – und das wiegt für das Gericht schwerer – würde auch ein solcher „Rumpf-Referendar“ Einblick in die Interna der Justiz erhalten. Er hätte Zugang zu Ermittlungsakten, zu den Namen von Zeugen und verdeckten Ermittlern, zu richterlichen Beratungsgeheimnissen.

Das Gericht konstruiert hier ein Szenario der „Unterwanderung“. Die allein abstrakte Angst, dass Informationen aus dem Inneren der Justiz an verfassungsfeindliche Organisationen abfließen könnten, genügt dem Thüringer Verfassungsgerichtshof bereits, um einen totalen Ausschluss als das einzige Mittel darzustellen, um die Integrität des Verfahrens und die Sicherheit der Daten gleichermaßen zu schützen. Diese Argumentation gewichtet den abstrakten Schutz der Institutionen damit sehr stark und überlädt sie mit einer abstrakten Gefahr der Unterwanderung, welche die Hürden für die Betroffenen maximal hochlegt. Sie bedeutet: Wer sich aktiv und zeitnah mit "einigem Gewicht" gegen die Werteordnung stellt, hat keinen Anspruch auf die Referendarsausbildung.

Dies hätte man mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit - wie die Richterkollegen aus Sachsen deutlich machten - durchaus anders entscheiden und auf mildere Mittel (wie dem Ausschluss von besonderen Sachmaterien und Tätigkeiten) zurückgreifen können. Denn längst nicht jeder Referendar führt eine Beweisaufnahme oder ein Plädoyer durch oder wird mit besonders sensiblen Sachverhalten konfrontiert. Dadurch wird man auch nicht zu einem "Rumpf-Referendar" degradiert, dazu ist die Juristenausbildung einfach zu vielfältig. Die Monopolstellung der staatlichen Juristenausbildung und die entstehende Härte durch die Verweigerung der Ausbildung schneiden hingegen tief in die Grundrechte der Betroffenen ein, da die Verweigerung der Referendariatsausbildung wie ein faktisches Berufsverbot für bestimmte Berufe wirkt. Die Haltung des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs überzeugt hingegen durch ihr Augenmaß.

Die Thüringer Entscheidung leidet mithin an einem fundamentalen Konstruktionsfehler: Sie setzt eine abstrakte Gefahr (Vertrauensverlust) mit einer konkreten Störung gleich. Der Thüringer Verfassungsgerichtshof argumentiert, allein das Wissen der Öffentlichkeit, dass ein „Verfassungsfeind“ im Dienst sei, beschädige den Rechtsstaat. Das ist eine Kapitulation. Ein selbstbewusster Rechtsstaat müsste sagen: „Wir sind stark genug. Wir bilden diesen Mann aus, weil das Gesetz es verlangt. Aber wir setzen ihn so ein, dass er keinen Schaden anrichten kann. Und wenn er im Dienst politisiert, fliegt er raus.“ Das wäre Souveränität.

Stattdessen wählt Thüringen den Weg der Angst: „Wir können ihn nicht kontrollieren, also lassen wir ihn gar nicht erst rein.“

Dabei wird übersehen, dass die Definition dessen, was eine „Gefahr für das Vertrauen“ ist, hochgradig volatil ist. Heute ist es der Rechtsextremist. Morgen vielleicht der Klimaaktivist, der wegen zivilen Ungehorsams verurteilt wurde („Tätigsein gegen die Rechtsordnung“)? Übermorgen der Kapitalismuskritiker? Sobald man den Boden der konkreten Dienstpflichtverletzung oder der Strafbarkeit verlässt und auf das „abstrakte Vertrauen“ abstellt, wird die Zulassung zum Spielball politischer Konjunkturen.

Das sächsische Modell hingegen bleibt streng am Verhalten orientiert. Wer sich im Dienst nicht benimmt, fliegt. Wer draußen Straftaten begeht, fliegt. Aber wer eine radikale Meinung hat und diese legal vertritt, wird ertragen – und eingehegt. Das ist anstrengender, aber es ist der einzige Weg, der einer freiheitlichen Gesellschaft gerecht wird.

VIII. Auswirkungen auf das Parteienprivileg und die politische Betätigungsfreiheit

Die Entscheidung aus Thüringen tangiert zwangsläufig das Parteienprivileg des Art. 21 Abs. 2 GG. Kritiker, so auch die Antragstellerin im Verfahren, sehen in der Regelung eine Umgehung des Parteiverbotsverfahrens. Wenn Mitglieder einer Partei, die nicht verboten ist, faktisch mit Berufsverboten belegt werden, werde die Chancengleichheit im politischen Wettbewerb ausgehöhlt.

Der Gerichtshof begegnet diesem Einwurf mit der bereits erwähnten Differenzierung zwischen Mitgliedschaft und individuellem Verhalten. Er betont, dass das Grundgesetz keine schrankenlose Toleranz gegenüber Verfassungsfeinden kennt, nur weil diese sich in einer Partei organisieren. Das Parteienprivileg schützt den Bestand der Partei als Organisation, nicht aber jedes rechtswidrige oder verfassungsfeindliche Handeln ihrer einzelnen Mitglieder im staatlichen Kontext.

Es bleibt ein starkes Unbehagen zurück. In der Praxis werden es vor allem Funktionäre der AfD und anderer als extremistisch eingestufter Gruppierungen sein, die demnächst von dieser Regelung betroffen sein dürften. Die Behörden werden sich bei der Anwendung des § 8 ThürJAG maßgeblich auf die Berichte des Verfassungsschutzes stützen. Damit erhält die Exekutive (der weisungsgebundene Verfassungsschutz) unter der politischen Aufsicht der Landesregierung eine erhebliche Deutungsmacht darüber, wer Volljurist werden darf. Das Gericht versucht, dies durch die Forderung nach einem „zurechenbaren, nach außen tretenden Ereignis“ einzuhegen und damit die Letztentscheidung bei den Gerichten zu belassen, die jeden Einzelfall prüfen müssen. Es ist absehbar, dass sich die Verwaltungsgerichte in den kommenden Jahren intensiv mit der Frage beschäftigen müssen, welche konkreten Handlungen die Schwelle zum „Tätigsein gegen die FDGO“ überschreiten.

IX. Fazit: Ein Sieg der wehrhaften Demokratie mit Risiken und Nebenwirkungen

Das Urteil des Thüringer Verfassungsgerichtshofs erweist dem Rechtsstaat einen Bärendienst. In der erklärten Absicht, die Demokratie zu schützen, beschädigt es eines ihrer konstitutiven Prinzipien: die strikte Bindung staatlicher Eingriffe an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Indem das Gericht die Argumentation der sächsischen Kollegen verwirft, entscheidet es sich für die "einfache" Lösung: Ausschluss statt Auseinandersetzung, Verbot statt Aufsicht. Es opfert die individuelle Berufsfreiheit einer abstrakten Gefahr für die Staatsraison. Die Entscheidung suggeriert, die Justiz sei ein fragiles Gebilde, das schon durch die bloße Anwesenheit eines Andersdenken in den Hinterzimmern eines Landgerichts in seinen Grundfesten erschüttert werde.

Diese Haltung zeugt von wenig Selbstvertrauen in die bindende Kraft der eigenen Institutionen. Eine Justiz, die so gefestigt ist, wie das Grundgesetz es vorsieht, muss es aushalten können, auch ihre Gegner auszubilden – solange diese sich an die Spielregeln halten. Sie muss in der Lage sein, durch Dienstaufsicht und beschränkte Aufgabenwahrnehmung sicherzustellen, dass keine Schäden entstehen.

Der Sächsische Verfassungsgerichtshof hat 2021 gezeigt, dass Wehrhaftigkeit und Liberalität keine Gegensätze sind. Er hat die konkrete Gefahr bekämpft, aber die abstrakte Freiheit bewahrt. Das Thüringer Urteil hingegen verschiebt die Balance einseitig zugunsten derjenigen, die gerade in der  Exekutiven den Ton angeben. Es ist ein Urteil der Angst, nicht der Stärke. Es bleibt zu hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht, sollte der Fall dort landen, den Mut findet, zum sächsischen Maßstab zurückzukehren und dem Staat ins Stammbuch zu schreiben: Wahre Autorität gewinnt man nicht durch Ausgrenzung, sondern durch die souveräne Bewältigung der Herausforderung. Wer die Freiheit verteidigen will, darf sie nicht aus Furcht vor ihren Risiken abschaffen.

Befürworter des Thüringer Urteils werden auf die Fortführung einer konservativ-staatstragenden Auffassung des Verfassungsrechts verweisen, die ihre Wurzeln in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der 1970er Jahre hat.

Gleichwohl ist das Urteil kein Freifahrtschein für eine politische Säuberung des öffentlichen Dienstes. Die Hürden für die Feststellung eines „Tätigseins gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ bleiben hoch. Bloße Sympathiebekundungen, Stammtischparolen oder die einfache Mitgliedschaft in radikalen Parteien genügen nicht. Auch das Thüringer Gericht hat die Grenzen markiert.

Für die Rechtswissenschaft und die Praxis bedeutet dieses Urteil, dass die Diskussion um die „wehrhafte Demokratie“ nicht beendet, sondern neu entfacht ist. Es verlagert die Verantwortung nun auf die Einstellungsbehörden und die Verwaltungsgerichte, die im Einzelfall das feine Gleichgewicht zwischen dem Schutz des Staates und der Freiheit des Einzelnen austarieren müssen. Thüringen hat gezeigt, dass der Rechtsstaat bereit ist, seine Zähne zu zeigen – ob er dabei das richtige Maß wahrt, wird die Praxis der kommenden Jahre erweisen müssen. Es steht zu erwarten, dass diese Frage letztlich doch noch den Weg nach Karlsruhe finden wird, um eine bundeseinheitliche Linie in dieser fundamentalen Frage des Zugangs zum Rechtsreferendariat zu sichern. Bis dahin gilt in Thüringen: Wer die Verfassung aktiv bekämpft, hat im Gerichtssaal nichts verloren – auch nicht als Rechtsreferendar.

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