Art. 72 AEUV als Ultima Ratio? Zur Aktivierung der nationalen Sicherheitsklausel im Spannungsfeld europäischer Integration und mitgliedstaatlicher Souveränität
Ein juristischer Kommentar zur aktuellen Grenzsicherungsdebatte
In einer Zeit, in der die tektonischen Platten europäischer Sicherheitspolitik spürbar knirschen, hat die Ankündigung von Kanzler Merz, zur Sicherung der nationalen Grenzen auf Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zurückzugreifen, eine Debatte von fundamentaler Bedeutung entfacht. Es ist ein Schritt, der die juristische Zunft ebenso aufhorchen lässt wie die politische Öffentlichkeit, berührt er doch das delikate Gleichgewicht zwischen den supranationalen Errungenschaften des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR) und der ureigenen Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit.
Artikel 72 AEUV, oft als "Souveränitätsanker" oder "nationale Notbremse" im Gefüge des RFSR bezeichnet, statuiert lapidar, aber mit weitreichenden Implikationen: "Dieser Titel berührt nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit." Diese Klausel, eine Reminiszenz an das Westfälische System staatlicher Souveränität, steht quer zur fortschreitenden Vergemeinschaftung sicherheitsrelevanter Politiken und ist Ausdruck eines tiefsitzenden Bedürfnisses der Mitgliedstaaten, in existenziellen Fragen das letzte Wort zu behalten.
Die Inanspruchnahme des Art. 72 AEUV durch die Bundesregierung unter Kanzler Merz ist somit mehr als eine bloße administrative Maßnahme; sie ist ein rechtspolitisches Signal. Sie postuliert eine Lage, in der die etablierten europäischen Mechanismen – sei es Frontex, die Bestimmungen des Schengener Grenzkodex oder die justizielle und polizeiliche Zusammenarbeit – als nicht mehr ausreichend erachtet werden, um einer als bedrohlich wahrgenommenen Situation an den Grenzen Herr zu werden. Hier liegt die erste juristische Herausforderung: die plausible Darlegung einer solchen Ausnahmesituation. Denn Art. 72 AEUV ist kein Freibrief zur beliebigen Aussetzung europäischen Rechts. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in ständiger Rechtsprechung klargestellt, dass Berufungen auf nationale Sicherheitsinteressen eng auszulegen sind und einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung unterliegen (EuGH, Urt. v. 26.04.2022 - C-368/20 und C-369/20). Eine bloße Behauptung genügt nicht; es bedarf einer konkreten, aktuellen und hinreichend ernsten Gefahr, die ein grundlegendes Interesse der Gesellschaft bedroht.
Die rhetorische Eleganz der politischen Begründung darf nicht über die juristische Präzision hinwegtäuschen, die hier vonnöten ist. Welche spezifischen Maßnahmen sollen unter dem Schutzschild des Art. 72 AEUV ergriffen werden? Geht es um die temporäre Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen, die über die Möglichkeiten des Schengener Grenzkodex (insb. Art. 25 ff. SGK) hinausgehen? Oder zielt die "Aktivierung" auf eine restriktivere Auslegung von Freizügigkeitsrechten oder gar auf Aspekte der Asylpolitik, die durch den RFSR eigentlich harmonisiert sind? Hier lauert die Gefahr, dass Art. 72 AEUV als Einfallstor für eine Renationalisierung von Politikfeldern eingesetzt wird, die mühsam europäisch eingehegt wurden.
Die juristische Dogmatik verlangt dabei eine sorgfältige Abwägung. Einerseits ist die Verantwortung für die innere Sicherheit zweifellos eine Kernkompetenz des Nationalstaats. Kein Staat kann und darf diese Verantwortung leichtfertig delegieren. Andererseits ist der RFSR mit seinen Grundfreiheiten, insbesondere der Personenfreizügigkeit, eine der sichtbarsten und wertvollsten Errungenschaften der europäischen Integration. Eine extensive Auslegung des Art. 72 AEUV birgt die Gefahr, dieses Fundament zu erodieren und einen Dominoeffekt auszulösen, der das Schengen-System als Ganzes in Frage stellen könnte.
Die entscheidende Frage wird daher sein, ob die von Kanzler Merz angeführten Gründe und die daraus abgeleiteten Maßnahmen dem strengen Test der Verhältnismäßigkeit standhalten. Sind die nationalen Maßnahmen geeignet, erforderlich und angemessen, um die definierte Bedrohung abzuwehren? Gibt es keine milderen, europarechtskonformen Mittel, die denselben Zweck erreichen könnten? Wurde das ultima-ratio-Prinzip beachtet? Die Beweislast hierfür liegt bei der Bundesregierung, und es ist zu erwarten, dass sowohl die Europäische Kommission als Hüterin der Verträge als auch der EuGH die Entwicklungen mit Argusaugen beobachten werden.
Letztlich ist die Berufung auf Art. 72 AEUV ein juristisches Manöver auf hochsensiblem Terrain. Es ist der Versuch, die Quadratur des Kreises zu meistern: die legitimen Sicherheitsbedürfnisse des Nationalstaats zu befriedigen, ohne die Grundpfeiler der europäischen Rechtsgemeinschaft zu untergraben. Ob dieser Balanceakt gelingt, wird nicht nur von der politischen Entschlossenheit, sondern maßgeblich von der juristischen Stichhaltigkeit der Argumentation und der gerichtlichen Überprüfung abhängen.
Die Aktivierung des Art. 72 AEUV ist ein starker Ausdruck nationaler Handlungsfähigkeit. Langfristig jedoch muss sie sich daran messen lassen, ob sie tatsächlich zur Stärkung der Sicherheit beiträgt, ohne dabei die Freiheit und das Recht in Europa unverhältnismäßig zu beschneiden. Es ist ein Ritt auf der Rasierklinge, bei dem rhetorische Brillanz allein nicht genügt, sondern juristische Solidität und europäische Verantwortung gefragt sind. Die Geschichte wird urteilen, ob dieser Schritt ein notwendiger Akt zur Wahrung der Stabilität oder der Beginn einer Erosion europäischer Solidarität war. Der Diskurs darüber hat gerade erst begonnen.