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Wenn der eigene Finger zum Dietrich der Polizei wird

In den Annalen der Strafrechtspflege gibt es Entscheidungen, die auf den ersten Blick technisch wirken, bei genauerer Betrachtung jedoch tief in das Fundament unserer rechtsstaatlichen Prinzipien einschneiden. Ein solcher Fall wurde jüngst vom Oberlandesgericht Bremen verhandelt (Beschl. v. 08.01.2025 - 1 ORs 26/24) und verdient unsere ungeteilte Aufmerksamkeit. Es geht um mehr als nur einen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB); es geht um die Frage, wie weit der Staat gehen darf, um an die digitalen Geheimnisse seiner Bürger zu gelangen, und ob er uns zwingen darf, ihm dabei mittels unseres eigenen Körpers behilflich zu sein.

Der Sachverhalt: Ein Fingerabdruck unter Zwang

Die Szenerie ist schnell skizziert und doch beklemmend: Im Rahmen einer Wohnungsdurchsuchung wegen des Verdachts der Verbreitung kinderpornographischer Schriften entdecken Polizeibeamte ein klingelndes Smartphone. Der Beschuldigte, der zuvor angab, kein funktionierendes Gerät zu besitzen, weigert sich, das gesperrte Telefon mittels seines Fingerabdrucks zu entsperren. Die Beamten belehren ihn, dass dies notfalls zwangsweise geschehen werde. Als der Beschuldigte versucht, sich der Maßnahme zu entziehen, wird er überwältigt, zu Boden gebracht, fixiert, und schließlich wird sein Finger von den Beamten auf den Sensor des Smartphones gedrückt. Das Gerät entsperrt sich. Der anschließende Widerstand des Beschuldigten führte zu seiner Verurteilung, die das OLG Bremen bestätigte. Entscheidend für die Rechtmäßigkeit des Widerstands war jedoch die Rechtmäßigkeit der polizeilichen Maßnahme – der erzwungenen Entsperrung. Und genau hier beginnt die juristische Kontroverse, die das OLG mit einer Argumentation beilegte, die erhebliche Zweifel aufwirft.

Die Argumentationslinie des OLG Bremen: Ein juristischer Spagat?

Das Gericht stützt die Rechtmäßigkeit der Zwangsentsperrung maßgeblich auf § 81b Abs. 1 StPO. Diese Norm erlaubt bekanntlich die Aufnahme von Lichtbildern und Fingerabdrücken sowie ähnliche Maßnahmen zur Durchführung des Strafverfahrens oder für Zwecke des Erkennungsdienstes. Das OLG interpretiert diese Vorschrift als ausreichend "technikoffen", um auch das Auflegen des Fingers auf einen Sensor zur Entsperrung zu erfassen. Es handle sich um eine "ähnliche Maßnahme" wie die klassische Abnahme eines Fingerabdrucks, da in beiden Fällen biometrische Daten erfasst würden. Der Zweck sei die "Durchführung des Strafverfahrens", was hier die Sicherung potenzieller Beweismittel auf dem Smartphone umfasse.

Den zentralen Einwand, dies verletze den Nemo-Tenetur-Grundsatz – das Recht, nicht an der eigenen Überführung mitwirken zu müssen – wischt das Gericht mit einem Verweis auf die etablierte Rechtsprechung beiseite. Der Beschuldigte werde nicht zu einer aktiven Aussage oder einem kommunikativen Akt gezwungen, wie etwa der Preisgabe einer PIN. Er müsse lediglich eine körperliche Untersuchungshandlung "passiv dulden", vergleichbar mit der Entnahme einer Blutprobe oder der Duldung einer körperlichen Untersuchung. Sein Wille sei hier irrelevant, da es nicht um die Erzwingung einer willensgetragenen Aussage gehe.

Zudem konstruiert das OLG eine Trennung zwischen dem Akt der Entsperrung, der unter § 81b Abs. 1 StPO falle, und dem anschließenden Zugriff auf die Daten sowie deren Verwertung, wofür dann die §§ 94, 110 StPO (Beschlagnahme und Durchsuchung von Beweismitteln) die Rechtsgrundlage böten. Die Rechtmäßigkeit der Entsperrung sei somit isoliert zu betrachten.

Die tiefgreifende Kritik: Eine Aushöhlung fundamentaler Rechte

Diese Argumentation des OLG Bremen hält einer kritischen Prüfung kaum stand und birgt erhebliche Gefahren für die Freiheitsrechte.

Beginnen wir mit der herangezogenen Rechtsgrundlage, § 81b Abs. 1 StPO. Diese Norm ist historisch und systematisch klar auf Maßnahmen der Identifizierung und des Erkennungsdienstes ausgerichtet. Es geht darum, die Identität einer Person festzustellen, sie mit Spuren vom Tatort abzugleichen oder Daten für zukünftige Identifizierungen zu speichern. Das zwangsweise Entsperren eines spezifischen Smartphones dient jedoch offenkundig nicht der Identifizierung des Beschuldigten – seine Identität war ja bekannt. Vielmehr dient es ausschließlich dem Zweck, Zugang zu den auf dem Gerät gespeicherten Daten zu erlangen, die als Beweismittel dienen sollen. Die Behauptung, dies sei eine bloße "Durchführung des Strafverfahrens" im Sinne des § 81b, ignoriert die spezifische Zweckrichtung der Norm und dehnt ihren Anwendungsbereich in unzulässiger Weise aus. Es handelt sich nicht um eine erkennungsdienstliche Maßnahme, sondern um einen Akt des Zugriffs auf verschlossene Informationen.

Auch die Qualifizierung als "ähnliche Maßnahme" zur Fingerabdruckabnahme überzeugt nicht. Funktionell besteht ein fundamentaler Unterschied: Bei der klassischen Fingerabdrucknahme werden körperliche Merkmale zu Vergleichszwecken passiv erfasst und gespeichert. Beim Entsperren per Fingerabdruck wird das biometrische Merkmal jedoch aktiv als digitaler Schlüssel benutzt, um eine Schutzbarriere zu überwinden und Zugang zu einem geschützten Datenbestand zu eröffnen. Es ist keine reine Datenerfassung, sondern ein erzwungener Öffnungsakt. Man könnte es vergleichen mit der erzwungenen Herausgabe eines physischen Schlüssels oder der Drehung am Rad eines Zahlenschlosses – beides wären keine Maßnahmen nach § 81b. Die angebliche "Technikoffenheit" einer Norm darf nicht dazu führen, ihren Kerngehalt und ihre Zweckbindung aufzugeben und sie zu einer Generalermächtigung für jegliche körperliche Interaktion zu machen, die den Ermittlern nützlich erscheint.

Der schwerwiegendste Einwand betrifft jedoch die Verletzung des Nemo-Tenetur-Grundsatzes. Die Unterscheidung des OLG zwischen "passivem Dulden" und "aktiver Mitwirkung" greift hier entschieden zu kurz und verkennt die Natur biometrischer Authentifizierung. Wenn ein Beschuldigter gezwungen wird, seinen Finger auf den Sensor zu legen, dann duldet er nicht nur passiv, dass sein Körper untersucht wird. Vielmehr wird sein Körper, genauer gesagt ein einzigartiges biometrisches Merkmal, das er selbst als digitalen Schlüssel konfiguriert hat, als Werkzeug instrumentalisiert, um seinen eigenen Willen (die Verweigerung des Zugangs) zu brechen. Er wird gezwungen, aktiv – wenn auch unter Zwang – die Handlung vorzunehmen, die den Ermittlern den Zugang zu potenziell selbstbelastendem Material erst ermöglicht.

Die funktionale Äquivalenz zur erzwungenen Nennung eines Passworts oder einer PIN ist offensichtlich. In beiden Fällen wird der Beschuldigte gezwungen, sein Wissen (Passwort) oder ein körperliches Merkmal (Fingerabdruck), das als Äquivalent zu diesem Wissen dient, preiszugeben, um eine Sicherheitshürde zu überwinden. Es ist allgemein anerkannt, dass die Erzwingung der Passwortnennung gegen Nemo Tenetur verstößt. Warum sollte die funktional identische, erzwungene Nutzung eines biometrischen Merkmals als "Schlüssel" anders behandelt werden? Das Ergebnis ist dasselbe: Der Staat verschafft sich durch eine erzwungene Mitwirkungshandlung des Beschuldigten Zugang zu dessen geschützter Datensphäre. Der Nemo-Tenetur-Grundsatz schützt aber gerade den Willen des Beschuldigten, nicht zur eigenen Überführung beitragen zu müssen. Dieser Wille wird durch die Zwangsentsperrung direkt gebrochen. Die vom OLG zitierte Rechtsprechung zu Blutproben etc. passt nicht, da dort der Körper lediglich Objekt der Untersuchung ist, hier aber zum aktiven Subjekt, zum Werkzeug des Öffnens, gemacht wird.

Ebenso problematisch ist die vom OLG vorgenommene künstliche Trennung zwischen Entsperrung (§ 81b) und Datenzugriff (§§ 94, 110). Diese Aufspaltung ist eine juristische Fiktion, die die Realität ignoriert. Die Entsperrung ist kein Selbstzweck, sie ist untrennbar mit dem Ziel des Datenzugriffs verbunden und diesem nachgeordnet. Ohne die Absicht des Datenzugriffs wäre die Entsperrung sinnlos und unverhältnismäßig. Die Rechtmäßigkeit des Mittels (Entsperrung) kann daher nicht isoliert von der Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit des Zwecks (Datenzugriff) beurteilt werden. Man benötigt eine Rechtfertigung für das Gesamtvorhaben, nicht nur für einzelne, künstlich zerlegte Schritte.

Schließlich bestehen erhebliche Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme. Das OLG stellt den vermeintlich geringfügigen Eingriff des Fingerauflegens dem staatlichen Interesse an der Aufklärung einer (hier zweifellos schweren) Straftat gegenüber. Diese Abwägung greift zu kurz. Sie unterschätzt massiv die Intensität des Eingriffs, der nicht nur in der kurzen körperlichen Nötigung liegt, sondern vor allem in der Ermöglichung des Zugriffs auf potenziell riesige Mengen hochsensibler persönlicher Daten, die durch das IT-Grundrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) besonders geschützt sind. Allein die Schaffung dieser Zugriffsmöglichkeit gegen den Willen des Betroffenen stellt einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff dar. Zudem stellt sich die Frage nach milderen Mitteln: War die sofortige Zwangsentsperrung vor Ort wirklich erforderlich, nachdem das Gerät bereits sichergestellt war? Hätte nicht versucht werden können, den Zugriff später durch technische Mittel oder eine spezifischere richterliche Anordnung (die eine detailliertere Verhältnismäßigkeitsprüfung erfordert hätte) zu erlangen? Die Argumentation, eine Fingerabdruck-Attrappe sei eingriffsintensiver, überzeugt nur bedingt und scheint nicht ausreichend geprüft worden zu sein.

Konsequenzen: Ein gefährlicher Präzedenzfall

Die Entscheidung des OLG Bremen ist mehr als nur die rechtliche Bewertung eines Einzelfalls. Sie schafft einen gefährlichen Präzedenzfall, der das Potenzial hat, den Nemo-Tenetur-Grundsatz im digitalen Zeitalter signifikant zu schwächen. Wenn der Staat uns zwingen kann, unsere Körper als Schlüssel gegen uns selbst zu verwenden, wird eine rote Linie überschritten. Die Unterscheidung zwischen physischem Zwang zur Duldung einer Untersuchung und Zwang zur aktiven (wenn auch körperlichen) Mitwirkung am Zugriff auf verschlüsselte Daten verschwimmt auf bedenkliche Weise.

Dieser Fall unterstreicht die dringende Notwendigkeit einer klaren gesetzgeberischen Antwort auf die Herausforderungen, die die digitale Verschlüsselung an die Strafverfolgung stellt. Diese Antwort muss jedoch die fundamentalen Grundrechte respektieren und darf nicht versuchen, alte Ermächtigungsgrundlagen wie § 81b StPO über ihre Grenzen hinaus zu strapazieren. Bis dahin bleibt der Beschluss des OLG Bremen ein mahnendes Beispiel für eine Rechtsprechung, die im Streben nach Effektivität Gefahr läuft, rechtsstaatliche Garantien zu erodieren. Der Finger darf nicht zum staatlich erzwungenen Dietrich für unsere digitale Privatsphäre werden.

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