"Mehr Mut zum Risiko – Für eine resolutere Ukraine-Strategie" - Re-Post eines Beitrags aus 2015 mit aktuellen Anmerkungen
Der Krieg in der Ukraine war das dominierende Thema in 2022. Nie stand der Westen seit 1990 so nahe an einem bewaffneten Konflikt mit einer hoch gerüsteten Industriemacht. Die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Auswirkungen hiervon werden die kommenden Dekaden prägen. Eins ist bereits heute klar, Deutschland muss sich weg von russischen Energieimporten bewegen, mithin auch die Energiewende grundlegend neu überdenken, welche vor allem auf Gaskraftwerke zur Gewährleistung der Grundlast setzte. Teure Importe aus moralisch zwielichtigen Staaten über LNG-Terminals sind nur eine kurzfristige Lösung, da teure Energie Gift für unseren Industrie- und Wirtschaftsstandort ist. Mehr Wind- und Solarkraft, welche die Regierung forcieren will, lösen nicht das Problem, sondern verschärfen es aufgrund ihrer Unstätigkeit nur noch. BASF hat etwa schon seinen Standort in Ludwigshafen aufgegeben - viele andere energieintensive Unternehmen werden folgen, wenn das Preisniveau so hoch bleibt oder sogar noch weiter ansteigt. Frankreich und Helmut Schmidt forcierten nach den beiden Ölkrisen der 70er-Jahre - in der Energie ebenfalls als Waffe gegenüber dem Westen eingesetzt wurde - nicht umsonst den Aufbau der Kernenergie als stabile, CO2-arme, lokale sowie günstige Energiequelle, mit der man die Abhängigkeit von unzuverlässigen Drittstaaten durchbrechen wollte. An einen Wiedereinstieg in die Kernenergie führt meines Erachtens kein Weg vorbei, um sich der Abhängigkeit von russischem Gas und heimischer aber umweltbelastender Kohle zu entziehen.
Die deutsche Politik tat völlig überrascht von dem russischen Einmarsch, doch hätte sie spätestens seit 2014 mehr für die Ukraine tun können, um einen solchen zu verhindern. Angela Merkels und Frank-Walter Steinmeiers politisches Erbe, welche die Aufnahme der Ukraine in die NATO sowie einen härteren Kurs gegenüber Russland blockierten, ist nun vollends gescheitert. In einem Beitrag für Offiziere.ch aus dem Februar 2015, d.h. sieben Jahre vor dem Einmarsch, hatte ich für mehr Unterstützung für die Ukraine geworben - leider verhallte dieser ungehört. Diesen möchte ich anbei unverändert erneut veröffentlichen, da das Original nur noch über das Webarchiv zugänglich ist. Die vorgetragene Position wurde damals nur im Baltikum und von den Osteuropäern geteilt, in Deutschland befand ich mich zu dem Zeitpunkt in einer Minderheit. Die damalige Analyse ist heute noch brandaktuell, mittlerweile hat auch hierzulande ein Umdenken eingesetzt - auch wenn höchst zögerlich. Ein Blick nach Großbritannien zeigt jedoch, dass Deutschland der russischen Agression noch viel entschlossener entgegen treten könnte, so wie man es von einer erwachsenen Mittelmacht in der Mitte Europas eigentlich auch erwarten dürfte. Teile der SPD und der Grünen aber auch die russland-affine Haltung der AfD und Linken dürften dafür verantwortlich sein, dass Deutschland vielmehr als Bremser, Zögerer und Zauderer agiert, da der russische Einfluss in Deutschland stärker als in anderen europäischen Ländern ist. Immerhin haben die Grünen sich an das Erbe von Joschka Fischer aus dem Kosovo-Krieg erinnert und sich gegenüber den Pazifisten in den eigenen Reihen zu einem staatstragenden Kurs durchgerungen. Das war nach Ankündigung einer "feministischen Außenpolitik" nicht unbedingt zu erwarten und es ist daher umso erfreulicher, dass derlei ideologisch aufgeladene Topoi derzeit keinerlei Rolle spielen. Würden sie doch nur zum Wohle des Landes auch in der Energiepolitik eine solche Kehrtwende vollziehen!
Mehr Mut zum Risiko – Für eine resolutere Ukraine-Strategie
Posted on February 18, 2015
Von Marcus Seyfarth. Marcus ist Rechtsreferendar am Kammergericht Berlin und Mitgründer der Facebook-Gruppe “Sicherheitspolitik“.In das seit Tagen umkämpfte Debalzewe sind die Separatisten trotz bestehender “Waffenruhe” nach eigenen Angaben gestern eingerückt, meldete die Tagesschau. Nach der Minsker Vereinbarung sollte ebenso am Dienstag der Rückzug der schweren Waffen von der Frontlinie beginnen. Die ukrainische Armee erklärte jedoch, sie wolle sie vorerst nicht zurückziehen. Die Regierung behauptet, es habe seitens der Separatisten binnen 24 Stunden 112 Angriffe gegeben, bei denen fünf Soldaten getötet und 25 weitere verletzt worden seien. Die Aufständischen warfen dem Militär ihrerseits Dutzende Verstöße gegen die Feuerpause vor. Separatistenführer Eduard Bassurin stellte klar, die Geschütze würden erst abgezogen, wenn die Feuerpause halte. Die in Minsk II vereinbarte Waffenruhe ist damit nach nur wenigen Tagen gescheitert. Der Umstand sollte ein Schlüsselmoment dafür sein, die gegenwärtige Ukraine-Strategie grundlegend zu überdenken.
Im Rahmen der Münchener Sicherheitskonferenz 2015 erläuterte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zuletzt ihre Sicht auf den Ukraine-Konflikt. Bei der Beantwortung der Fragen aus dem Publikum hatte sie auf den Kalten Krieg Bezug genommen, den sie hinter dem Eisernen Vorhang erlebte. Damals habe niemand geglaubt, dass den Bürgern der DDR mit Waffengewalt zu einem Leben in Freiheit verholfen werden kann. Als die Mauer gebaut wurde, seien die USA nicht in den Krieg gezogen. Stattdessen hätten sie ein langes Durchhaltevermögen bewiesen. “Dass die USA die Stange hielten, hat dazu geführt, dass ich heute hier sitze”, sagte Merkel.
Im Westen haben viele den Eindruck, die Ukraine-Konflikt müsse schnell gelöst werden. Merkel hält ihre Erfahrung dagegen, dass demokratische Systeme langfristig überlegen sind. So, wie die DDR irgendwann zusammenbrach, weil neben ihr die demokratische BRD florierte, soll es auch den Volksrepubliken in der Ostukraine ergehen. Das kann Jahrzehnte dauern. Von einer schnellen Lösung des Konfliktes hält sie nichts: “Ich glaube einfach, dass militärisches Engagement zu mehr Opfern führen wird, aber nicht dazu, dass Putin besiegt wird”, sagte sie. “Das Problem ist, dass ich mir keine Situation vorstellen kann, in der eine verbesserte Ausrüstung der ukrainische Armee dazu führt, dass Präsident Putin so beeindruckt ist, dass er glaubt, militärisch zu verlieren”, erklärte sie.
Diese Sicht mag Europa vor einem militärischen Konflikt mit Russland bewahren. Ganz Europa? Nein, in der Ukraine würden weiter russische Panzer rollen. Wenn schon in historischen Analogien gesprochen wird, so entwickelt sich der Donbass eher zu einem Elsass-Lothringen — einem Zankapfel zwischen der Ukraine und Russland — als zu einer DDR. Der Westen würde seine Glaubwürdigkeit verspielen für seine Werte einzustehen, wie der Achtung des internationalen Rechts und der Ächtung imperialer Politik — aber immerhin würde kein Krieg mit Russland geführt. Man möchte meinen, dass die derzeitige Strategie des Westens lautet: “Um keinen Preis einen Krieg mit Russland riskieren!”.
Würde das auch für eine Invasion Russlands ins Baltikum gelten? Hier griffe die Einstandspflicht der NATO und ist somit anders zu bewerten, aber die Abkehr von allem Militärischen scheint es schwer glaubhaft zu machen, dass der Westen große Lust dazu hätte einen Krieg für “die paar Zwergstaaten” zu führen. Zumal es um die Einsatzbereitschaft der Armeen Europas nach einer jahrzehntelangen Abrüstung nicht zum Besten steht — im Ernstfall besäßen nur die Amerikaner die militärischen Mittel. Doch der Preis wäre ungleich höher: Der Wesenskern der NATO wäre zerstört, die Allianz zerbrochen, der NATO-Vertrag nur noch ein geduldiges Stück Papier ohne Wert.
Vor diesem drohenden Zukunftsszenario irrt Merkel mit ihrer Sicht, dass eine verbesserte Ausrüstung der ukrainischen Armee nicht dazu führen würde, Putin dazu zu bringen den Konflikt zu beenden. Denn wie die Erfahrung der Sowjets in Afghanistan gezeigt hatte, werden wohl auch von Russland horrende Verluste nicht über Jahre duldsam hingenommen werden können. Die Strategie muss es also sein, erstens den Konflikt eingedämmt zu halten, zweitens zu verhindern, dass Putin die ganze Ukraine erobert und drittens die militärischen und ökonomischen Verluste Russlands zu maximieren, um so früh wie möglich die Russen zu einer Aufgabe ihres Expansionskurses zu bringen. Hierzu ist einzig die ukrainische Armee derzeit berufen den militärischen Part zu übernehmen, ohne einen offenen militärischen Konflikt mit dem Westen zu riskieren. Es besteht also durchaus ein Interesse die ukrainischen Truppen bestmöglich auszustatten und auszubilden, um diese Ziele zu erreichen.
Die Befürchtungen des Westens vor einem militärischen Großkonflikt mit Russland dürfen nicht den Blick auf die militärische Komponente dieser Gleichung verstellen. Auch wenn der russische Präsident schwer zu deuten ist, dürfte die Prämisse als gesichert anzunehmen sein, dass auch Russland keinen Krieg mit der NATO zu führen gewillt ist. Insofern ist auch Putin gehalten den militärischen Konflikt so weit zu kontrollieren und eingedämmt zu halten, um nicht die NATO offen in den Konflikt zu ziehen.
Dies öffnet den Weg für die Lieferung von Verteidigungswaffen, wie sie der ukrainische Präsident Petro Poroschenko auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2015 gefordert hat und wie jüngst auch in den USA immer intensiver darüber nachgedacht wird. Mitnichten würde Putin die NATO angreifen für ein paar gelieferte Radaranlagen, oder Luft- und Panzerabwehrwaffen.
Deshalb: Die russischen Muskelspiele dürfen die westlichen Regierungen nicht in Schockstarre verfallen lassen. Träten diese geschlossen mit mehr Mut und Entschlossenheit auf, ließe es Putin keinen Raum für politische Manöver den Westen auseinander zu dividieren. Die USA einerseits und das Tandem aus Frankreich und Deutschland andererseits präsentieren hier derzeit eine offene Flanke, in die Moskau nur zu gerne stößt. Den Amerikanern wird die eigenen interventionistischen Verfehlungen der Vergangenheit vorgehalten und den Europäern wird Angst vor dem Verlust des Friedens und der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen gemacht.
Die derzeitige Strategie scheitert, weil sie den Westen entzweit und den imperialen Gelüsten Russlands kein mit glaubwürdigem Droh- und Schadpotential ausgestattetes militärisches Gegengewicht entgegensetzt und in Moskau als Politik der Schwäche ausgelegt wird. Es wird kein Risiko akzeptiert und Schritte werden unterlassen, die bereits provokant für einen Einstieg in einen militärischen Konflikt gehalten werden könnten. Der Westen entsagt sich damit einem Instrument, um auf die im Kreml noch einzig verbliebene Größe einzuwirken, die – so traurig dies ist – einen Ausschlag für einen Politikwechsel geben könnte: Den Verlusten an Soldaten und Material. Wenn dies die einzige Kenngröße ist, die Moskau zum Einlenken bringt, dürfen wir nicht länger davor zurückschrecken hierauf einzuwirken, um dafür zu sorgen, dass der Preis für ein weiteres russisches Militärengagement zu teuer wird.
Angesichts der realen Bedrohung der europäischen Friedensordnung sind die NATO-Staaten gut damit beraten die in Wales 2014 getroffene Vereinbarung einzuhalten mehr für die Verteidigung auszugeben und damit der alten Weisheit si vis pacem para bellum (“Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor”) zu folgen. Die Ukraine verdient in ihrem Kampf für die Freiheit und Selbstbestimmung nicht bloß unser Mitgefühl, sondern auch weitere handfeste Unterstützung, die auch die Lieferung von Defensivwaffen beinhaltet. Als Führungsmacht kommt hierbei den USA eine Schlüsselrolle zu, aber auch wir Europäer sind gefordert unseren Beitrag hierzu zu leisten.
Weitere InformationenMax Avdeev and Max Seddon, “Horrific Images Capture The Sheer Brutality Of War In Ukraine“, BuzzFeed News, 17.02.2015.
Die in Minsk vereinbarte Waffenruhe ist in der Ostukraine nie flächendeckend in Kraft getreten. Der diplomatische Versuch ist nach den Kämpfen um Debalzewe gescheitert. –> Steffen Dobbert, “Minsk II ist tot“, Zeit Online, 17.02.2015.
Minsk II ist de facto gescheitert. Wir gehen unruhigen Zeiten entgegen. Jetzt müssen die Nato und die Europäer eine härtere Gangart einschlagen. –> Jörg Eigendorf, “Merkels Hoffnungsschimmer von Minsk erlischt“, Die Welt, 17.02.2015.
Etwas anderer Meinung ist Issio Erich, Politik-Redakteur bei n-tv.de: Issio Ehrich, “Die Ukraine-Politik der EU ist alternativlos“, n-tv, 17.02.2015.
Die Artillerieangriffe, die im Juli/August 2014 die ukrainische Armee zum Stehen gebracht haben, wurden von regulären russischen Einheiten von russischem Territorium aus geführt. In mindestens einem Fall haben reguläre russische Artillerie-Einheiten die Grenze zur Ukraine überquert. –> “Bellingcat Report – Origin of Artillery Attacks on Ukrainian Military Positions in Eastern Ukraine Between 14 July 2014 and 8 August 2014“, Bellingcat, 17.02.2015. Eine deutsche Zusammenfassung findet sich hier als PDF.