Gespannt blickten viele Augen Anfang Dezember auf das erste großes Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Corona-Maßnahmen. In Karlsruhe standen allerlei Maßnahmen auf dem Prüfstand, u.a. die sogenannte "Bundesnotbremse" als auch die im Infektionsschutzgesetz (IfSG) eingeführten Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen.
Das Bundesverfassungsgericht nimmt sich mit diesem Urteil selbst aus dem Spiel der Gewalten, es verkommt zu einem willfährigen Erfüllungsgehilfen der Politik in der größten Krise der Bundesrepublik in der Nachkriegsgeschichte und untergräbt damit seine eigene Autorität. Wenn es weiter ernst genommen werden will, sollte es sich seiner Kontrollfunktion und seiner Verantwortung wieder stärker bewusst werden.
Bereits zu Beginn der Pandemie sprach ich von der schwierigsten Prüfung des Grundgesetzes in seiner Nachkriegsgeschichte - und meine Erwartungen an das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber auf ein geeignetes, erforderliches und angemessenes Handeln zu beschränken - wie es das Verhältnismäßigkeitsprinzip gebietet - hat das Gericht mit seinem Urteil enttäuscht, und zwar deutlich.
Mit diesem Eindruck stehe ich nicht alleine in meiner Zunft. Heribert Prantl, Justiz-Kommentator der Süddeutschen, hat seinen Eindruck in einem Interview gegenüber der Berliner Zeitung auf die folgenden Zeilen verdichtet, denen ich zustimme:
"Erst war ich nur enttäuscht über das Ergebnis. Dann habe ich gelesen und noch mal gelesen. Und ich war, in dieser Reihenfolge: ungläubig, empört und zornig. Es ist ein peinliches Urteil. Wenn man das Bundesverfassungsgericht so schätzt, wie ich es tue, weil es sich große und größte Verdienste erworben hat – dann hat man ein Fremdscham-Gefühl. Ich habe mich gefragt, wo die intellektuelle Kraft dieses Gerichts geblieben ist. Vom Geist der großen Richter in der Geschichte des Verfassungsgerichts – Helmut Simon, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Dieter Grimm, Winfried Hassemer – ist nichts zu spüren: keine Checks, keine Balances. [...] Die Karlsruher Beschlüsse geben der Politik fast alle Freiheiten bei der Corona-Bekämpfung. Gewiss: Das Grundrecht auf Leben und Gesundheit ist ein großes, wichtiges, wertvolles Grundrecht. Aber es müssen nicht automatisch alle anderen Grundrechte beiseitespringen, wenn der Staat auch nur behauptet, dass die Maßnahmen, die er verordnet, dem Lebensschutz dienen. Das muss geprüft werden. Da reicht es nicht, wenn das Gericht stattdessen von einem angeblich schlüssigen Gesamtkonzept der Corona-Bekämpfung fabuliert – und sich so die penible grundrechtliche Prüfung der einzelnen Bekämpfungsmaßnahmen erspart."
Dass es sich Karlsruhe viel zu einfach gemacht habe, kritisiert ebenso - stellvertretend für viele andere - der Oldenburger Verfassungsrechtler Boehme-Neßler in der ZEIT:
"Das Gericht betont, dass Regierung und Parlament einen großen Einschätzungsspielraum hätten. Ob schwere Gefahren durch die Pandemie drohen und welche Maßnahmen für die Bekämpfung nötig sind, kann also die Politik entscheiden. Das Gericht hält sich zurück und prüft nur, ob der Gesetzgeber die vorliegenden wissenschaftlichen Informationen sachgerecht und vertretbar beurteilt und dann eine nachvollziehbare Entscheidung trifft. Die vom Gericht um Auskunft gebetenen Experten aus der Medizin und der Virologie vertreten die Ansicht, dass Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen ein geeignetes Mittel zur Pandemiebekämpfung sind. Das Gericht sagt klipp und klar: Deshalb seien sie auch verfassungsrechtlich zulässig. Das irritiert. Denn gerade die Frage, ob die Wirkung der nächtlichen Ausgangsbeschränkungen groß genug ist, um die Freiheitsbeschränkungen zu rechtfertigen, ist umstritten."
"Das Gericht betont, dass Regierung und Parlament einen großen Einschätzungsspielraum hätten. Ob schwere Gefahren durch die Pandemie drohen und welche Maßnahmen für die Bekämpfung nötig sind, kann also die Politik entscheiden. Das Gericht hält sich zurück und prüft nur, ob der Gesetzgeber die vorliegenden wissenschaftlichen Informationen sachgerecht und vertretbar beurteilt und dann eine nachvollziehbare Entscheidung trifft. Die vom Gericht um Auskunft gebetenen Experten aus der Medizin und der Virologie vertreten die Ansicht, dass Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen ein geeignetes Mittel zur Pandemiebekämpfung sind. Das Gericht sagt klipp und klar: Deshalb seien sie auch verfassungsrechtlich zulässig. Das irritiert. Denn gerade die Frage, ob die Wirkung der nächtlichen Ausgangsbeschränkungen groß genug ist, um die Freiheitsbeschränkungen zu rechtfertigen, ist umstritten."
Das Gericht zieht sich in seiner Prüfungsdichte zurück, sieht in vorderster Linie den Gesetzgeber in der Verantwortung, um im Rahmen des ihm zustehenden Einschätzungsspielraums - gestützt auf die ihn beratenden Wissenschaftler - zu einer vertretbaren Entscheidung zu gelangen. Hier verkennt Karlsruhe aber die gerade jenem Gericht zustehende Kontrollfunktion. Sicher ist Karlsruhe weder Ersatzgesetzgeber, noch verfügt es über eigene wissenschaftliche Expertise zur Beantwortung medizinisch-virologischer Fragestellungen, doch kann man von Verfassungsrichtern erwarten die Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit der getroffenen Maßnahmen zu überprüfen und dem Gesetzgeber dabei auch Schranken aufzuzeigen. Ein Blick auf die Arbeit der Kollegen am Oberverwaltungsgericht Greifswald hätte dazu den Karlsruher Richtern genügt. Denn die obersten Mecklenburger Verwaltungsrichter fanden zu den nächtlichen Ausgangssperren, welche in Mecklenburg wenige Wochen vor deren bundesweiten Einführung im Infektionsschutzgesetz bereits landesweit eingeführt wurden, mahnende Worte und stellten sich ihrer Verantwortung (OVG Greifswald, Beschluss vom 23.04.2021 - 1 KM 221/21, Rn. 5 - 8) den Gestzgeber die Schranken seines Handelns aufzuzeigen:
"Der schwerwiegende Eingriff in das Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit durch die Festlegung einer nächtlichen Ausgangsbeschränkung darf nicht lediglich mit dem Ziel angeordnet werden, weniger eingreifende Maßnahmen "abzusichern“. Der Eingriff zielt maßgeblich darauf ab, die bestehenden Kontaktbeschränkungen im Hinblick auf Kontaktmöglichkeiten zwischen Menschen insbesondere bei nächtlichen Aktivitäten abzusichern. Einer mittels Ausgangsbeschränkung zusätzlichen bzw. nochmaligen gesetzlichen Untersagung von Zusammenkünften, die über die erlaubte Personenanzahl hinausgehen, bedarf es dazu nicht. Es ist nicht angemessen, alle in einem bestimmten Gebiet lebenden Personen einer Ausgangsbeschränkung zu unterwerfen, nur weil einzelne Personen und Personengruppen die geltenden allgemeinen Kontaktbeschränkungen nicht freiwillig befolgen. Denn dies bedeutet, diejenigen, die ohnehin mit Blick auf die geltenden Kontaktbeschränkungen bereits als Nichtstörer in Anspruch genommen werden und die diese Kontaktbeschränkungen auch vollumfänglich beachten, gewissermaßen „doppelt“ erneut als Nichtstörer einem weiteren Eingriff zu unterwerfen, obwohl hierfür gerade ihnen gegenüber keine Veranlassung besteht. Es ist nicht die Aufgabe des sich rechtskonform verhaltenden Bürgers, den staatlichen Stellen ihre Aufgabenwahrnehmung in Gestalt der Kontrolle und Durchsetzung der Kontaktbeschränkungen zu erleichtern."
"Der schwerwiegende Eingriff in das Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit durch die Festlegung einer nächtlichen Ausgangsbeschränkung darf nicht lediglich mit dem Ziel angeordnet werden, weniger eingreifende Maßnahmen "abzusichern“. Der Eingriff zielt maßgeblich darauf ab, die bestehenden Kontaktbeschränkungen im Hinblick auf Kontaktmöglichkeiten zwischen Menschen insbesondere bei nächtlichen Aktivitäten abzusichern. Einer mittels Ausgangsbeschränkung zusätzlichen bzw. nochmaligen gesetzlichen Untersagung von Zusammenkünften, die über die erlaubte Personenanzahl hinausgehen, bedarf es dazu nicht. Es ist nicht angemessen, alle in einem bestimmten Gebiet lebenden Personen einer Ausgangsbeschränkung zu unterwerfen, nur weil einzelne Personen und Personengruppen die geltenden allgemeinen Kontaktbeschränkungen nicht freiwillig befolgen. Denn dies bedeutet, diejenigen, die ohnehin mit Blick auf die geltenden Kontaktbeschränkungen bereits als Nichtstörer in Anspruch genommen werden und die diese Kontaktbeschränkungen auch vollumfänglich beachten, gewissermaßen „doppelt“ erneut als Nichtstörer einem weiteren Eingriff zu unterwerfen, obwohl hierfür gerade ihnen gegenüber keine Veranlassung besteht. Es ist nicht die Aufgabe des sich rechtskonform verhaltenden Bürgers, den staatlichen Stellen ihre Aufgabenwahrnehmung in Gestalt der Kontrolle und Durchsetzung der Kontaktbeschränkungen zu erleichtern."
Das Bundesverfassungsgericht nimmt sich mit diesem Urteil selbst aus dem Spiel der Gewalten, es verkommt zu einem willfährigen Erfüllungsgehilfen der Politik in der größten Krise der Bundesrepublik in der Nachkriegsgeschichte und untergräbt damit seine eigene Autorität. Wenn es weiter ernst genommen werden will, sollte es sich seiner Kontrollfunktion und seiner Verantwortung wieder stärker bewusst werden.