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Herr Schmidt, ich widerspreche!

In einer neuen Serie führt die ZEIT die gewohnten Interviews mit Bundeskanzler a.D. Helmut Schmidt weiter. Der Altkanzler erfreut sich mit zunehmender Distanz zu seiner Amtszeit steigender Popularität. Sein Wort findet noch immer Gehör und seine aktuellen Bücher verkaufen sich ordentlich.

Wie ich finde auch zu Recht.

Wie viele Deutsche halte auch ich recht viel von seinen Analysen, Kommentaren und Urteilen, wenn ich auch gerne mal anderer Ansicht bin. Mit dem Altkanzler verbindet mich u.a. das besondere Interesse für Geschichte und Außenpolitik. Mich erstaunt es aber folglich umso mehr folgende Zeilen im aktuellen Interview vom 11.11.2009 von ihm zu vernehmen. Es geht um den Umgang mit altgedienten Kadern des überkommenen DDR-Systems nach der Wende:

di Lorenzo: Haben wir nicht die Biografien von Millionen von Deutschen einfach plattgemacht?

Schmidt: Ich war absolut dagegen, ehemalige Kommunisten so zu behandeln, wie das in der deutschen Öffentlichkeit geschehen ist.

di Lorenzo: Sie meinen die Ausgrenzung zum Beispiel im öffentlichen Dienst?

Schmidt: Ja, das war ein Pfahl im Fleische einer Nation, die zusammenwachsen sollte und wollte. Da war Adenauer klüger als die Berliner Strafjustiz; er hat nichts dabei gefunden, schlimme Nazis in den Dienst zu nehmen. Kurt Schumacher hat auch nichts dabei gefunden, junge SS-Leute in die SPD aufzunehmen.

di Lorenzo: Aber Sie haben zu Recht auch immer wieder beklagt, dass die Deutschen viel zu nett gewesen sind zu den ehemaligen Nazis.

Schmidt: Man muss sorgfältig unterscheiden: Jemand, der andere Leute in ernsthafter Weise geschädigt oder gar zu Tode gebracht hat, der gehört vor Gericht und verurteilt. Aber jemand, der nichts getan hat, als Informationen über seinen Nachbarn zu sammeln, der war ein normaler Mensch, denn der Nachbar hat über ihn womöglich auch Informationen gesammelt.

di Lorenzo: Wir haben also die Nazis besser behandelt als die ehemaligen SED-Mitglieder?

Schmidt: Ja. Jemanden, der eine Maschinenfabrik oder ein Elektrizitätswerk in Ost-Berlin geleitet hat, nur deswegen abzulösen, weil er der Stasi Mitteilungen gemacht hat, war abwegig. [...]


Sehr geehrter Herr Bundeskanzler a.D. Schmidt,

Zugegeben, bei einer Zigarette lassen sich so heikle Punkte, wie im oben stehenden Interview angesprochen, nicht fundiert genug erörtern. Das Format des Interviews ließe dies aus Platzmangel ebenso nicht zu.

Dennoch machen Sie es sich zu einfach, wenn Sie den kritischen Umgang mit den Kommunisten nach der Wende verurteilen und die historische Parallele zu Adenauer und Schumacher ziehen.

Denn auch wenn NS-Spitzenbeamte, wie der belastete Hans Globke, unter Adenauer weiter Karriere machte, ist die Schlußfolgerung daraus, einen automatischen Freibrief zur Zulassung von Stasi-Spitzeln und Apperatschicks des DDR-Regimes für den öffentlichen Dienst herzuleiten, schlicht falsch. Die Verwicklungen hätten zuvorderst individuell lückenlos aufgedeckt werden müssen. Erst dann hätte eine gerichtlich anfechtbare Entscheidung über die Weiterbeschäftigung gefällt werden dürfen, um die Belasteten von den Mitläufern und Unbelasteten zu trennen.

In Ansätzen wurde dies durch die nach dem Zweiten Weltkrieg durchgeführte Entnazifizierung angegangen, der sich jeder Erwachsene damals stellen musste. Wenn auch dieses Verfahren fehleranfällig und fehlerbehaftet war und die Umsetzung haperte, war mit ihr eine gewaltige Aufarbeitung der Vergangenheit verbunden, zu der es ebenso gehörte Straftäter vor Gericht zu bringen. Nach der Wende hingegen unterblieb eine lückenlose Aufarbeitung der Systemverstrickung aller Bürger der ehemaligen DDR. Eine wahre Mammutaufgabe, die durch geschredderte Unterlagen und der zunächst abhanden gekommenen Namenliste aller Spione (Rosenholzdatei) noch erschwert wurde.

Ein weitestgehend gerechtes Vorgehen hätte dies jedoch erfordert.

Der Unmut vieler Ostdeutscher rührt gerade auch daher, dass die Aufarbeitung nicht lückenlos bis in die untersten Ebenen der Staatsorgane erfolgt ist und alt gewachsene Seilschaften heute teilweise immer noch funktionieren. Jene niederen Chargen von gestern haben heute höhere Hierarchiepositionen erreicht und wirken immer noch. Anstatt hier also eine Lanze für die Kommunisten zu brechen, hätten Sie auch auf die kürzlich geführte Diskussion über die weiterbeschäftigten Stasileute kommen können, die in der Sache selbst freilich unspektakulärer war, als sie medial aufgebauscht wurde. Im Kern trifft sie aber zu Recht einen wunden Punkt, der Empörung hervorruft.

Zudem treten Sie mit ihrer Kritik gleich mehre Empfindlichkeiten mit Füßen: Denn wie sähe es beim Volk, das gerade erfolgreich sein Regime gestürzt hat, aus, wenn ausgerechnet diejenigen Altkader wieder in Rang und Würde aufstiegen, die mehr oder weniger tatkräftig bei der Unterjochung weiter Teile der übrigen Bevölkerung mitpartizipierten?!

Einen Beitrag zum "System der Angst" hat auch derjenige geleistet, der Informationen über seine Nachbarn gesammelt hat. Fürwahr steht auf einem anderen Blatt geschrieben, welche individuellen Konsequenzen sich aus dem jeweiligen Verhalten für das gesellschaftliche Leben im wiedervereinigten Deutschland ergeben und wie in der Öffentlichkeit mit dem Thema umgegangen werden sollte. Die parteipolitische Betätigung wird man jenen kaum verwehren. Geläuterte SED-Mitglieder oder Mitglieder der ebenso systemverstrickten Blockparteien wurden auch in die neu etablierte politische Ordnung nach der Wende integriert.

Die deutliche Distanzierung im öffentlichen Dienst war demnach aber ebenso notwendig und politisch geboten, um der deutlichen Mehrheit der Ostdeutschen Rechnung zu tragen, die sich zuvor für ein Leben in Freiheit einsetzte. Ich meine sogar, dass die Aufarbeitung nicht weit genug ging.
Eine blinde Stigmatisierung aller Diener des totalitären Systems, ohne die Berücksichtigung der individuellen Umstände, ist ebenso törricht, wie eine moralische und politische Generalamnestie, wie Sie sie in Ihren Antworten implizieren. Ihre Position stößt aber genau jene Ostdeutsche vor den Kopf, die unter dem Regime gelitten haben und es unter hohen Mut erfordernden persönlichem Einsatz 1989 stürzten.

Hochachtungsvoll,
Marcus Seyfarth

Freiburg/Br., den 12.11.2009

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