Direkt zum Hauptbereich

Das VG Neustadt an der Weinstraße beschädigt die Demokratie - Zur OB-Wahl in Ludwigshafen

Ein Kommentar von Ass. iur. Marcus Seyfarth, LL.M.

Die Verweigerung der OB-Kandidatur von AfD-Bewerber Joachim Paul nimmt immer groteskere Züge an. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Neustadt an der Weinstraße vom 18. August 2025 ist in aller Schärfe zu kritisieren. Er predigt die Beständigkeit von Wahlen, verengt aber den Zugang zum effektiven Rechtsschutz, wenn er am nötigsten ist. Er appelliert an organisatorische Vorsicht, wo die freiheitliche Ordnung nicht Vorsicht, sondern handfeste Sicherung politischer Teilhabe verlangt. Er erklärt die Klärung von Verfassungsfragen zur Sache für später, obwohl sich die entscheidende Weiche gerade jetzt stellt: auf dem Stimmzettel oder eben nicht. Damit wird die Demokratie nicht geschützt, sondern beschädigt! Wer die Prioritäten falsch setzt und so urteilt wie die 3. Kammer des VG Neustadt an der Weinstraße, zeigt selbst ein mangelhaftes Verständnis von Recht und Demokratie.

I. Der Fall, seine Brisanz und die verkannte Weichenstellung

Der Wahlausschuss der Stadt Ludwigshafen hat Joachim Paul von der AfD für die Oberbürgermeisterwahl nicht zugelassen. Begründet wurde dies mit Zweifeln an seiner Verfassungstreue. Der Bewerber wehrte sich im Eilverfahren und verlangte die vorläufige Zulassung. Das Verwaltungsgericht wies den Antrag als unzulässig zurück. Es verwies den Bewerber auf die nachträgliche Wahlprüfung, die erst nach der Wahl greift und die hohe Hürde einer Ungültigerklärung zu nehmen hat. In der Sprache der Wahlrechtsdogmatik klingt das fast unscheinbar. In der Wirklichkeit einer Wahl aber ist es eine Weichenstellung von größter Tragweite. Wer nicht auf dem Stimmzettel steht, findet im politischen Wettbewerb nicht statt. Wer aus inhaltsbezogenen Gründen ausgesondert wird, erfährt einen schwerwiegenden Eingriff in die Chancengleichheit politischer Kräfte und in das passive Wahlrecht. Dieser Eingriff ist nicht reparabel. Eine spätere Feststellung der Rechtswidrigkeit kann die verlorene Wahlchance niemals nachreichen. Die nachträgliche Wahlprüfung ist in solchen Konstellationen das grobe Werkzeug des Wahlrechts. Sie ist geeignet, massive Verfahrensfehler und offensichtliche Verstöße zu sanktionieren. Sie taugt nicht als universelle Kompensation dafür, dass man die verfassungsrechtliche Prüfung an der entscheidenden Stelle vertagt.

II. Was auf dem Spiel steht: Chancengleichheit und partizipationsfreundliche Demokratie

Die Chancengleichheit der politischen Kräfte ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein tragendes Prinzip des demokratischen Wettbewerbs. Sie folgt aus dem Parteienstatus, aus der Wahlrechtsgleichheit und aus dem demokratischen Grundsatz, dass der politische Wettbewerb vom Bürger entschieden wird und nicht durch vorgelagerte Hoheitsakte verengt werden darf. Dieses Prinzip hat konkrete, einfache Konsequenzen. Es besagt, dass staatliche Stellen allen politischen Kräften in aller Regel die gleichen Chancen im Wettbewerb einräumen müssen. Es untersagt vor allem inhaltsbezogene Vorentscheidungen, die den Wettbewerb verfälschen. Es verlangt, dass die Entscheidung über politische Angebote auf die Wähler verlagert wird, es sei denn, das Recht sieht ausnahmsweise eine von besonders strengen Voraussetzungen getragene Sperre vor, wie etwa das Parteiverbot durch das Bundesverfassungsgericht. Daraus folgt nicht, dass der Staat untätig bleiben müsste, wenn konkrete Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Ziele oder Mittel bestehen. Daraus folgt aber, dass inhaltsbezogene Eingriffe in die Chancengleichheit nur auf der Grundlage individualisierter, belastbarer Tatsachen und unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit zulässig sind. Wer dies verkennt, ersetzt demokratischen Wettbewerb schleichend durch administrative Vorauswahl.

Für Laien lässt sich die Tragweite an einem einfachen Bild verdeutlichen. Eine Wahl gleicht einer Messe, auf der die Bürger die politischen Angebote begutachten und auswählen. Der Staat hat für einen geordneten Ablauf zu sorgen. Er darf aber nicht darüber entscheiden, welche Anbieter überhaupt durch das Tor kommen, solange nicht eindeutige und rechtsstaatlich legitimierte Ausschlussgründe vorliegen. Wer den Einlass verweigert, hat den Wettbewerb verändert, bevor er begonnen hat. Das ist die eigentliche Brisanz des Falles. Sie liegt nicht in der Person, sondern in der Struktur. Sie betrifft nicht nur Parteien, sondern die Rechte der Wähler, die aus einer verkürzten Auswahl wählen müssen. Wer nicht wählen kann, was er wählen möchte, leidet eine demokratische Einbuße. Wer erst nach der Wahl erfährt, dass die Auswahl zu Unrecht verkürzt war, hat nichts gewonnen.

III. Effektiver Rechtsschutz muss wirken, bevor die Wahl entschieden ist

Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes garantiert effektiven Rechtsschutz. Effektiver Rechtsschutz ist mehr als der Hinweis auf irgendeinen Rechtsbehelf irgendwo irgendwann. Er ist die verfassungsrechtliche Zusage, dass Grundrechtsverletzungen gerichtlich aufgefangen werden, solange sie noch aufgefangen werden können. In Wahlangelegenheiten bedeutet das: Wenn der Ausschluss eines Bewerbers irreparable Nachteile bewirkt, muss der Zugang zum Eilrechtsschutz grundsätzlich eröffnet sein. Es gibt einen klassischen Konflikt zwischen der Beständigkeit von Wahlen und dem Schutz individueller Rechte. Dieser Konflikt wird jedoch nicht durch pauschale Sperrriegel gelöst, sondern durch eine Justierung der Anforderungen an den vorläufigen Rechtsschutz. Die Linie der Verfassungsrechtsprechung ist eindeutig. Wo der Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren die drohenden Nachteile nicht mehr verhindern kann, dürfen die Anforderungen an die vorläufige Sicherung nicht so hoch geschraubt werden, dass der Schutz leerläuft. Das VG Neustadt formuliert hingegen einen Maßstab, der faktisch eine Immunisierung bewirkt. Vorläufiger Rechtsschutz solle nur dann gewährt werden, wenn ein offensichtlicher Fehler vorliegt, der ohne vertiefte Prüfung erkennbar ist. Diese Offenkundigkeitsdoktrin mag bei rein organisatorischen Wahlfragen einen Platz haben. Bei Eingriffen in die Chancengleichheit und in das passive Wahlrecht taugt sie nicht als Generalklausel. Sie verwandelt die verfassungsrechtliche Sicherung in eine Schönwettergarantie, die gerade in schwierigen Situationen nicht greift. Sie schafft darüber hinaus einen perversen Anreiz: Je umfangreicher eine Behörde Zweifel behauptet und Aktenordner füllt, desto weniger „offenkundig“ wird der Rechtsverstoß und desto sicherer ist der Ausschluss vom Stimmzettel. So sieht effektiver Rechtsschutz aber gerade nicht aus.

Ein rechtsstaatlich tragfähiger Ansatz muss anderen Maßstäben folgen. Er besteht erstens in einer ernsthaften, verdichteten Prüfung der tragenden Tatsachen bereits im Eilverfahren. Diese Prüfung darf summarisch bleiben, muss aber die entscheidungserheblichen Punkte durchdringen. Er besteht zweitens in einer Folgenabwägung, wenn die Rechtslage offen ist. Er fragt dann, welcher Fehler schwerer wiegt. Diese Methode ist in der verwaltungsgerichtlichen Praxis etabliert und mit Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz voll kompatibel. Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass die gerichtliche Klärung nicht beliebig vertagt werden kann, wenn sonst die Freiheit der Wahl irreversibel geschmälert wird.

IV. Die Asymmetrie der Risiken erzwingt im Zweifel die Teilnahme

Die Abwägung der Folgen führt in Konstellationen wie der vorliegenden zu einem klaren Ergebnis. Wird der Bewerber zugelassen und erweist sich später, dass die Zulassung rechtswidrig war, droht möglicherweise eine Wahlanfechtung und im Extremfall eine Wiederholung. Das ist unerfreulich. Es ist jedoch organisatorisch beherrschbar. Es lässt die Entscheidung über die Angebote des politischen Wettbewerbs bis zur endgültigen Klärung offen. Wird der Bewerber ausgeschlossen und stellt sich später heraus, dass der Ausschluss rechtswidrig war, ist der Schaden irreparabel. Die verlorene Wahlchance kann nicht rückwirkend ersetzt werden. Der Wähler hat eine verkleinerte Auswahl gehabt. Der Bewerber hat an fairer Konkurrenz nicht teilgenommen. Die Wahlprüfung hilft dann nicht mehr, sondern hält im besten Fall den Spiegel vor die verpasste Freiheit. Diese asymmetrische Risikoverteilung ist der entscheidende Grund dafür, dass in Zweifelsfällen der partizipationsfreundliche Weg beschritten werden muss. Der Verweis auf technische Umsetzungsfragen überzeugt demgegenüber nicht. Wahlorgane sind durchaus in der Lage, kurzfristige Änderungen zu bewältigen. Sie tun dies regelmäßig bei Todesfällen von Bewerbern, bei Druckfehlern auf Stimmzetteln, bei Nachrückern auf Listen und bei gerichtlichen Korrekturen von Formalfehlern. Die Sorge vor einer „Flut“ von Eilverfahren ist ebenfalls kein taugliches Argument. Sie ist ein abstrakter Befund. Sie ersetzt nicht die spezifische Abwägung im konkreten Fall. Ein Rechtsstaat schützt nicht weniger, weil viele Schutzsuchende kommen könnten. Er schützt gut und trennt den begründeten vom unbegründeten Antrag.

V. Die Verfassungstreueklausel ist eine enge, individuelle Schwelle, keine Generalvollmacht zur Vorauswahl

Die Gemeindeordnung Rheinland-Pfalz knüpft die Wählbarkeit von Bürgermeistern an die Gewähr, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten. Diese Klausel ist eine qualifizierte persönliche Anforderung. Sie ist verfassungsrechtlich nur in engster Auslegung zu halten. Sie darf nicht zur inhaltsbezogenen Zugangshürde werden, mit der Verwaltungsorgane politische Angebote umfassend vorprüfen. Das Parteiverbot ist in Artikel 21 Absatz 2 Grundgesetz geregelt und dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten. Wer diese Trennung ignoriert, verschiebt eine grundlegende Entscheidungskompetenz. Daher verlangt die Verfassungstreueklausel individualisierte, belastbare Tatsachen. Gefordert ist zurechenbares Verhalten des konkreten Bewerbers, das eine ernsthafte Gefahr mangelnder Verfassungstreue für das zu wählende Amt erkennen lässt. Gefordert ist eine Prognose, die auf klaren Belegen beruht, verhältnismäßig ist und sich jeder Gesinnungsprüfung enthält. Diese Maßstäbe sind streng. Sie müssen streng sein. Denn es geht um die Frage, ob der demokratische Wettbewerb auf der Angebotsseite verkürzt wird. Je niedriger die Schwelle des Verdachts, desto näher rückt die inhaltliche Kuratierung des Wettbewerbs durch die Verwaltung. Das ist demokratietheoretisch riskant und rechtlich nur in äußersten Ausnahmefällen zu legitimieren.

VI. Der Rückgriff auf Verfassungsschutzberichte darf die Beweislast nicht umkehren

Das Verwaltungsgericht verweist ausführlich auf die Einstufung der AfD als Verdachtsfall sowie auf Passagen aus dem Verfassungsschutzbericht Rheinland-Pfalz und berichtet über Veranstaltungen im Umfeld eines Immobilienkomplexes in Koblenz. Das mag Anstoß für sorgfältige Prüfung geben. Es ersetzt jedoch keine individualisierte Tatsachengrundlage. Eine Verdachtsfalleinstufung betrifft eine Organisation. Sie trifft keine Tatsachenfeststellung zur Verfassungstreue jedes individuellen Mitglieds. Sie wirkt als Indiz, nicht als Allgemeinbeweis. Die Nennung im Verfassungsschutzbericht ist ein Hinweis, der zur Prüfung verpflichtet. Sie ist kein rechtsstaatlich tragfähiger Grund, die persönliche Wählbarkeit ohne weitere Verdichtung zu verneinen. Das gilt erst recht, wenn die Indizien vorrangig milieu- und umfeldbezogen sind. Die Feststellung, dass ein Wahlkreisbüro als Vernetzungsort diente, sagt noch nichts über die persönliche Gewähr eines Kandidaten aus, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten. Wer mit generalisierenden Indizien arbeitet und daraus harte Rechtsfolgen ableitet, kippt die Beweislast. Der Bewerber soll dann gleichsam seine Verfassungstreue beweisen. Das ist mit der freiheitlichen Grundordnung unvereinbar. Sie kennt keinen Gesinnungszwang. Sie verlangt von Amtsinhabern Loyalität zur Verfassung, keine weltanschauliche Läuterungsprobe im Vorfeld.

VII. Die dogmatische Inkonsistenz des Ausschlusses springt ins Auge

Der Bewerber ist seit Jahren Abgeordneter eines Landesparlaments. Diese Feststellung ist kein Freibrief. Sie ist aber ein ernstzunehmendes Argument im Rahmen der Verhältnismäßigkeit. Ein demokratisch legitimierter Mandatsträger ist Teil der verfassten Ordnung. Wenn derselben Person ohne nachweisliche neue Tatsachen die Wählbarkeit zu einem kommunalen Spitzenamt abgesprochen wird, entsteht eine Inkonsistenz, die einer besonderen Begründung bedarf. Diese Begründung kann nicht in Verdachtsnarrativen liegen. Sie kann erst recht nicht in einer generell erhöhten Sensibilität gegenüber missliebigen politischen Spektren liegen. Sie muss individuelle Tatsachen benennen, die eine neue, qualifizierte Gefahrenprognose tragen. Andernfalls droht eine selektive Handhabung, die den Schein der politischen Opportunität erzeugt. Genau diesen Schein kann und darf ein Rechtsstaat sich nicht leisten.

VIII. Wahlbeständigkeit ist ein wichtiges Gut, aber sie ist nicht absolut

Das Verwaltungsgericht verweist auf die Beständigkeit von Wahlen und auf die Gefahr organisatorischer Schwierigkeiten. Das ist nachvollziehbar. Wahlen leben von Verlässlichkeit. Sie leben aber nicht nur von Verlässlichkeit, sondern zuerst von Freiheit und Gleichheit. Diese Güter stehen nicht außerhalb, sondern innerhalb der Wahlbeständigkeit. Eine beständige Wahl, die wesentliche Wettbewerber ohne hinreichenden Grund ausschließt, mag stiller verlaufen. Sie ist aber nicht besser. Die verfassungsrechtliche Hierarchie ist eindeutig. Die Wahlbeständigkeit dient den Wahlgrundsätzen. Sie darf ihnen nicht vorgeordnet werden. Deshalb verlangt das Wahlrecht eine sorgfältige Feinjustierung. Es will keine inflationären Eilverfahren. Es will aber dort, wo das Risiko irreparabler Einbußen hoch ist, einen funktionsfähigen Schutz. Diesen Schutz verwehrt der hier gewählte Ansatz des Gerichts.

IX. Was das Gericht im Eilverfahren hätte tun müssen und was das Oberverwaltungsgericht nun korrigieren sollte

Ein angemessener Maßstab hätte den vorläufigen Rechtsschutz nicht an eine Offenkundigkeitsschwelle gebunden, die in komplexen Verfahrenslagen kaum je erreicht wird. Er hätte stattdessen zwei Schritte verlangt, die sich klar begründen lassen. Zunächst hätte das Gericht die tragenden Tatsachen verdichtet prüfen müssen. Es hätte die vom Wahlausschuss angeführten Indizien individualisieren und auf ihre taugliche Aussagekraft hin untersuchen müssen. Es hätte klären müssen, ob konkrete, dem Bewerber zurechenbare Verhaltensweisen vorliegen, die die Prognose einer fehlenden Gewähr rechtfertigen. Es hätte ferner die Verhältnismäßigkeit dieser Prognose prüfen müssen, weil die Verfassungstreueklausel sonst zur Generalvollmacht einer inhaltsbezogenen Vorauswahl wird. Anschließend hätte das Gericht, für den Fall einer offenen Rechtslage, die Folgen abwägen müssen. Diese Abwägung hätte angesichts der irreversiblen Nachteile eines Ausschlusses zwingend zugunsten der Teilnahme ausfallen müssen. Als Rechtsfolge hätte sich die vorläufige Zulassung zum Stimmzettel angeboten. Diese Zulassung hätte unter dem Vorbehalt der Hauptsache stehen können. Sie hätte die Wahlprüfung nicht entwertet, sondern sinnvoll ergänzt. Sie hätte den Wettbewerb bis zur endgültigen Klärung offengehalten. Das Oberverwaltungsgericht hat nun die Chance, genau dies zu tun. Es kann den Zugang zum Eilrechtsschutz öffnen, ohne die Wahlbeständigkeit zu opfern. Es kann die Tatsachenbasis der Prognose schärfen, ohne Gesinnungsprüfungen zu institutionalisieren. Es kann in einer klaren Entscheidung deutlich machen, dass die Verwaltung nicht zur Torwächterin der politischen Konkurrenz werden darf.

X. Eine Anmerkung zur Rolle des Verfassungsschutzes und zur Verantwortung der Gerichte

Der Verfassungsschutz beobachtet, sammelt und bewertet. Das ist seine Aufgabe. Dieser ist im übrigen an Weisungen gebunden, an der Spitze des Innenministeriums stehen Politiker und politische Beamte. Er ist kein Gericht. Seine Berichte sind wichtig, aber sie sind keine Urteile. Sie liefern Indizien, aber sie ersetzen keine Beweise. Sie weisen auf Gefahren hin, aber sie setzen nicht die rechtliche Schwelle dessen, was im Einzelfall getan werden darf. Der Unterschied ist grundlegend. Er markiert den Ort, an dem die verfassungsrechtliche Verantwortung der Gerichte beginnt. Gerichte sind dazu da, Indizien auf ihre rechtliche Tragfähigkeit zu prüfen, Tatsachen zu individualisieren und die Verhältnismäßigkeit von Eingriffen zu kontrollieren. Sie sind dazu da, das Tor zur Freiheit offen zu halten, wo die Verwaltung mit Blick auf Gefahren geneigt ist, es vorsorglich zu verengen. Das verlangt keine Nachsicht gegenüber Feinden der Verfassung. Es verlangt nur, dass der Kampf für die Verfassung mit ihren Mitteln geführt wird. Dazu gehört, dass Zweifel Verdachtscharakter haben und nicht ohne weiteres zur rechtlichen Disqualifikation führen. Dazu gehört, dass Gesinnungen nicht sanktioniert werden, sondern dass Handlungen zählen. Dazu gehört, dass Prognosen nicht auf vagen Zuschreibungen beruhen, sondern auf belastbaren Tatsachen. Wenn Gerichte diese Trennlinien verwischen, schwächen sie die Rolle, die ihnen die Verfassung zubilligt und laufen Gefahr als Handlanger der Regierenden am Ausschluss der politischen Opposition wahrgenommen zu werden.

XI. Die politische Neutralität des Wahlrechts ist kein Luxus, sondern Sicherheitsarchitektur

Die Versuchung ist groß, unliebsame politische Kräfte durch Vorfeldentscheidungen kleinzuhalten. Doch genau hier zeigt sich die Weisheit des Wahlrechts. Es setzt auf neutrale Spielregeln und auf die Urteilskraft der Wähler. Es lässt grundsätzlich jeden auf den Platz, der die gesetzlichen Mindestvoraussetzungen erfüllt. Es greift erst ein, wenn die Verfassung selbst bedroht ist und die gesetzlichen Schwellen hierfür überschritten sind. Diese Architektur ist nicht naiv, sondern klug. Sie bewahrt vor dem schleichenden Übergang von der Demokratie zur "staatlich gelenkten" Demokratie, in dem die Verwaltung zum Auswahlgremium der politischen Optionen wird. Wer die Neutralität an einer Stelle aufgibt, schafft Präzedenz. Präzedenz verführt zur Ausweitung. Ausweitung verändert die Kultur des Wahlrechts. Die Kultur des Wahlrechts aber ist fragil. Sie lebt vom Vertrauen, dass der Wettbewerb fair ist. Sie lebt davon, dass Gerichte dieses Vertrauen schützen. Der vorliegende Beschluss tut das Gegenteil. Er verengt den Rechtsschutz und adelt eine inhaltsbezogene Vorauswahl, die auf generalisierenden Indizien fußt. Er setzt damit einen Standard, der sich leicht auf andere Fälle übertragen ließe. Das ist der eigentliche Grund, weshalb die Sache über den Einzelfall hinausreicht und scharf zu kritisieren ist.

XII. Ein Wort zur „technischen Umsetzbarkeit“

Das Gericht betont, es könne so kurz vor der Wahl nicht überblicken, wie eine gerichtliche Anordnung noch umgesetzt werden könne. Das ist ein ernst zu nehmender Gesichtspunkt. Er ist jedoch kein tragfähiges Argument, die Prüfung zu verweigern. Die Umsetzbarkeit ist eine Frage der Organisation, nicht der Verfassung. Sie ist zu bewältigen, wenn die Rechtslage es gebietet. Das Recht kennt Instrumente, um technischen Hürden Rechnung zu tragen. Es erlaubt Übergangsanordnungen. Es erlaubt Fristverkürzungen, wo es sachlich geboten ist. Es erlaubt die schrittweise Umsetzung. Das Recht verlangt vor allem eines. Es verlangt die Bereitschaft, in den Dienst der Freiheit Aufwand zu betreiben. Wer Freiheit aus Bequemlichkeit hintanstellt, setzt falsche Prioritäten. Wer sie aus Technizitätsgründen relativiert, erweckt den Eindruck, dass der Schutz der Rechte nur in ruhigen Zeiten gilt. Gerade das darf ein Gericht nicht signalisieren.

XIII. Die verfassungsrechtliche Leitfrage, die das Oberverwaltungsgericht beantworten sollte

Das Oberverwaltungsgericht wird entscheiden müssen, ob im Eilrechtsschutz eine starre Offenkundigkeitsschwelle genügt, um Eingriffe in die Chancengleichheit und in das passive Wahlrecht in die Sphäre der nachträglichen Wahlprüfung zu verschieben. Es wird zudem klären müssen, ob die vom Wahlausschuss herangezogenen Indizien eine individualisierte, tragfähige Prognose mangelnder Verfassungstreue stützen. Es wird schließlich abwägen müssen, welche Folgen schwerer wiegen. Diese drei Fragen lassen sich mit einem schlichten Kompass beantworten. Dieser Kompass lautet, dass freiheitliche Rechte im Zweifel zu öffnen, nicht zu schließen sind. Er lautet, dass Verdacht keine Beweise ersetzt und auch keine Beweislastumkehr bewirkt. Er lautet, dass Wahlbeständigkeit den Wahlgrundsätzen dient und nicht umgekehrt. Wer sich an diesen Kompass hält, kommt zu einem Ergebnis, das den Anforderungen der Verfassung gerecht wird. Dieses Ergebnis besteht in der vorläufigen Zulassung, ohne die endgültige Bewertung vorwegzunehmen. Es besteht in einer klaren Mahnung an die Wahlorgane, inhaltsbezogene Zugangsschranken nur in engsten Grenzen zu ziehen. Es besteht in der Feststellung, dass der Weg über die Wahlprüfung kein Ersatz für effektiven Rechtsschutz ist.

XIV. Schluss: Im Zweifel für die Wahl

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Neustadt will besonnen wirken. Er wirkt in Wahrheit verstörend. Er schweigt in dem Moment, in dem das Recht sprechen muss. Er verschiebt die Freiheit auf später, obwohl es sie nur jetzt gibt. Er entlastet die Verwaltung, wo das Gericht gerade genauer hinschauen müsste. Er akzeptiert eine inhaltsbezogene Vorauswahl auf der Grundlage generalisierender Indizien und verengt den Zugang zum effektiven Rechtsschutz durch eine Offenkundigkeitsschwelle, die dem Ernst der Lage nicht gerecht wird. Das Urteil entpuppt sich damit als eine Farce, die unsere Rechtsordnung beschädigt. Ein freiheitlicher Verfassungsstaat sollte mit dem Risiko leben, einen Bewerber zu viel auf dem Stimmzettel zu haben. Er sollte nicht mit dem Risiko leben, einem Bewerber und seinen Wählern zu Unrecht die Teilnahme zu verwehren und damit zum Nachteil der Wähler in den politischen Prozess einzugreifen. Die Demokratie ist robust genug, den offenen Wettbewerb auszuhalten. Sie ist zu fragil, um ihn vorsorglich zu beschneiden. Das Oberverwaltungsgericht Koblenz hat die Gelegenheit, diesen Kompass zu justieren. Es sollte sie nutzen. Im Zweifel für die Wahl. Im Zweifel für den offenen Wettbewerb, der sie trägt.

Beliebte Posts aus diesem Blog

When Compiler Engineers Act As Judges, What Can Possibly Go Wrong? How LLVM's CoC Committee Violated Its Own Code

Open source thrives on collaboration. Users report bugs, developers investigate, and together, the software ecosystem improves. However, the interactions are not always trouble free. Central to this ecosystem are Codes of Conduct (CoCs), designed to ensure respectful interactions and provide a mechanism for addressing behavior that undermines collaboration. These CoCs and their enforcement are often a hotly disputed topic. Rightfully so! What happens when the CoC process itself appears to fail, seemingly protecting established contributors while penalizing those who report issues? As both a law professional with a rich experience in academia and practice as a legal expert who also contributes to various open source software projects over the past couple of years, I deeply care about what the open source community can learn from the law and its professional interpreters. This story hopefully ignites the urge to come up with better procedures that improve the quality of conflict res...

Linux Gaming Tweaks - A small guide to unlock more performance (1)

My personal journey to unlock more performance on Linux - Part 1: Introduction This is the start of a new series dedicated to the Linux Gaming community. This is a bit of an oddball in my blog as most of my other blog posts are written for a German audience and cover my other two passions: politics and the law. Nonetheless, PC gaming is a hobby for me since I was six years old, playing games on a Schneider 386 SX. Wow, times ran fast. As I've learned quite a lot about Linux during the last couple of years, switching between several distributions, learning about compilers and optimizing parts of a Linux distribution for a greater gaming experience, I was asked recently on the Phoronix Forums to share some of my findings publicly, and I am very glad to do so with a global audience. But keep in mind, I am neither a software nor a hardware engineer - I am a law professional who is passionate about computers. I digged deep into the documentation and compiled a lot of code, breaking my s...

Amtsschimmel - Folge 4 (Fortsetzung 3) - Die Generalstaatsanwaltschaft steckt den Kopf in den Sand

Wenn es um das Sühnen staatlichen Unrechts geht, ist in der Regel auf eines Verlass: Auf eine groteske Verweigerungshaltung anderer staatlicher Stellen dies anzuerkennen und in der Folge auch zu ahnden. Wer den Ausgangsfall verpasst hat, sollte unbedingt sich zuvor den Beitrag hier noch einmal anschauen. Widmen wir uns heute dem Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft Rostock vom 10. Januar 2024 (Az.: 2 Zs 724/23), der inhaltlich bedauerlicherweise wieder einer Arbeitsverweigerung gleich kommt. Immerhin stellt man sich dabei leicht intelligenter an als  noch die Staatsanwaltschaft Schwerin , wenn auch im Ergebnis ohne Substanz: Lieber Kollege Henkelmann , haben Sie wirklich über die Jahre alles vergessen, was Sie einmal im Staatsrecht gehört haben sollten? So grundlegende Dinge, wie die Bindung aller staatlicher Gewalt an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) oder das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG)?! Fühlen Sie sich auch noch gut dabei, wenn Sie tatkräftig dabei mithelfen, da...